Erinnerung an den Chaostag auf Sylt: Auf LSD in den Knast
In sozialen Medien wird wegen des 9-Euro-Tickets zu Chaostagen auf Sylt aufgerufen. 1995 sind tatsächlich echte Punks dorthin gefahren. Ich war dabei.
C haostage auf Sylt? Mit echten Punks, die die Perle der Nordsee in Schutt und Asche legen? Nicht ohne mindestens bürgerkriegsähnliche Zustände natürlich? Oder bleibt das alles doch nur eine lustige Idee, ein sozialmediales Ersatzdings für Sofa-Radikalinskis? Bislang finden die Ausschreitungen ja bloß virtuell statt, in Twitter-Memes. Für Ältere gibt’s eine schwelgerische Facebook-Veranstaltung.
Sowas was gab es im März 1995 noch nicht, nicht mal googeln konnte man. Wer Chaos stiften wollte, musste noch umständlich und analog um Aufmerksamkeit buhlen. Per Neunnadeldrucker und Fax an die Genoss*innen und die Redaktionen wurde damals der Appell verschickt, mit dem die „Strandguerilla Hamburg“ zum „Politischen Chaostag“ auf der Nordseeinsel aufrief. „Sylt für alle, sonst gibt’s Krawalle!!!“, lautete die markige Drohung, die noch darauf bauen konnte, dass alle an die Chaostage in Hannover dachten. Im Jahr zuvor war die alte Tradition dort wiederbelebt worden, mit spektakulären Straßenschlachten zwischen Punks und der Polizei.
So ganz ernst nahm sich der Aufruf zum Chaostag auf Sylt dabei selbst gar nicht. Spaß- und Kommunikationsguerilla kam damals in Mode, Revolution sollte auch Spaß machen, Ironie, Satire, Persiflage, Fälschungen wurden in der radikalen Linken cool: „Erfrecht sich doch die Sylter Bourgeoisie eines direkten Angriffs gegen die proletarischen Massen und damit gegen uns alle!“, heißt es im Flugblatt maximal klassenkämpferisch: „Sperren wollen sie Sylt für diejenigen, die Urlaub nicht als bloße Konsumierung von 20-Mark-Pizzen und Nobelhotels verstehen. Die Kurtaxe soll künftig BesucherInnen direkt am Bahnhof abgepresst werden, um somit den Pfeffersäcken wenigstens teilweise ihren entgangenen Profit zu gewährleisten. Das ist eine direkte Provokation gegen Nichtreiche!“
Als wir dann am 25. März, pünktlich morgens um halb sechs (!), tatsächlich mit rund 80 Leuten am Altonaer Bahnhof in Hamburg standen und auch die Presse wirklich angebissen hatte, war das aber auch für die Angereisten eine Überraschung. Mehr als einen spaßigen Ausflug, für den sich am Ende doch niemand interessiert, hatten die meisten – auch ich – gar nicht erwartet. Autonome standen da, Antifas, viele fast noch Kinder. Und tatsächlich richtige Nietenkaiser*innen, die munter LSD-Pappen verteilten.
Und dann wurde es echt chaotisch. Die Punks legten ein paar Karlsquell-Dosen später los, während die Autonomen noch Flugblätter verteilten und dem Hamburger Abendblatt den politischen Gehalt der Aktion erklärten. 30.000 Mark Schaden sollen nach Angaben der Bahn auf der Reise entstanden sein. Das sah vor allem wild aus: ein ganzer Waggon vollgesprüht, Passagiere fühlten sich belästigt.
Die Polizei war vorbereitet und wartete mit 100 Leuten in Westerland, deshalb stiegen wir kurzerhand in Keitum aus und zogen durch die Alleen. Und für ein paar Minuten sah es echt nach Chaostag aus: Ein Punk schmiss einen großen Stein aus diesen hübschen Bauernmauern, auf einer Motorhaube stehend, mit beiden Händen in die Frontscheibe des zugehörigen BMW.
Aber auf der Landstraße nach Westerland war schon Schluss: Geknüppel, Kessel, Innenhof des Westerländer Gefängnisses. Viele der Minderjährigen waren verletzt, stundenlang regnete es. Alle wurden erkennungsdienstlich behandelt und bekamen einen Eintrag in die gerade eingerichtete polizeiliche „Punker-Datei“. Dann mussten wir im Polizeispalier zum Bahnhof, am Rand schimpfende Menschen, die uns lautstark ins Lager wünschten. Zurück nach Hamburg ging es dann im zerstörten Waggon, damit wir uns schämten.
Ein paar Wochen und ernste polizeiliche Ansprachen in Elternhäusern später aber glätteten sich die Wogen um die Sylter „Billig-Touris“ wieder. Die kamen weiterhin, kurtaxefrei. Bis die Bahn das Wochenend-Ticket wieder abschaffte: vor drei Jahren erst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe