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Forschung zu Shoa-ÜberlebendenDie Stimme der Überlebenden

Birgit Mair sammelt Stories von Holocaust-Überlebenden, besucht mit ihnen Schulen, stellt sich gegen rechts. Sie erinnert, ohne dabei zu zerbrechen.

Holocaust-Überlebende auf dem Cover des Buchs „Die letzten Zeuginnen und Zeugen“ von Birgit Mair Foto: ISFBB e.V.

Als Birgit Mair den Holocaust-Überlebenden Ernest Glaser, der in den USA sein Glück gemacht hat, fragt, wie er mit der aktuellen Situation umgeht, mit Trump und dem Rechtsruck, antwortet er mit einem Zitat aus Johann Strauss’ Fledermaus: „Glücklich ist, wer vergisst, das, was nicht mehr zu ändern ist.“ Das ist laut Mair keine Schicksalsergebenheit: „Das heißt, wir dürfen uns nicht auffressen lassen von diesem Rechtsruck, auch hier nicht. Und manchmal müssen wir auch ein bisschen vergessen.“ Wenn sie heute Abend mit Freundinnen essen gehe, wolle sie nicht über die AfD sprechen.

Sie sitzt in ihrem Büro des ISFBB (Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung), das sie mit gegründet hat, in einem ehemaligen Fabrikgebäude in Nürnberg. Gerade hat sie jungen Theatermachenden ein Interview über die aktuelle politische Lage gegeben. Sie sei nicht besonders häufig hier, sagt sie, weil die Adresse öffentlich ist. Sicherer fühle sie sich zu Hause.

Birgit Mair hat die Lebensgeschichten von mehr als 20 Überlebenden des Holocaust aufgeschrieben und sich mit mehr als 40 Überlebenden getroffen. 2024 erschien die zweite Auflage des Buchs „Die letzten Zeuginnen und Zeugen“. Sie organisiert Ausstellungen, hält Vorträge über Rechtspopulismus und Verschwörungstheoretiker und fährt zusammen mit Zeit­zeu­g:­in­nen in Schulen. Seit sie 1998 Josef Jakubowicz traf, hat sie ihr Leben vor allem dieser Sammlung gewidmet: den Geschichten der Überlebenden.

Mair, Ende der 1980er-Jahre aus der Enge Tirols nach Nürnberg geflohen, arbeitete zunächst als Sekretärin im Presseamt der Stadt: viel langweilige Kopierarbeit. Sie holte ihr Abitur nach und ging ins Studium der Sozialwissenschaften, das sie sich unter anderem mit Führungen über das ehemalige Reichsparteitagsgelände finanzierte. So sei sie auf den Radar des Professors geraten, der sie eines Tages unvermittelt anrief: Ob sie nicht ihre Diplomarbeit über einen jüdischen Holocaustüberlebenden schreiben wolle.

„Ich habe sofort Ja gesagt, was eigentlich ein bisschen ungünstig war: Meine Tochter war gerade vier Monate alt. Aber es hat mich so wahnsinnig interessiert.“ Fast zwei Jahre lang trifft sie sich regelmäßig mit Josef Jakubowicz, hört zu, nimmt auf, tippt alles ab. Mair zeigt zwischen Daumen und Zeigefinger die Stärke des Papierstapels: „So ein dickes Ding.“

An Autobahn mitarbeiten

Jakubowicz erzählt von der Jugend mit Schlittenfahren und Schabbatliedern in der Synagoge, vom Einmarsch deutscher Truppen in Polen und der Umbenennung seiner Heimatstadt Oświęcim. Jakubowicz war nur 300 Meter vom späteren Stammlager Auschwitz aufgewachsen, sein Elternhaus wurde von den Nazi abgerissen. 1941 kam er ins Zwangsarbeiterlager Annaberg in Oberschlesien, er musste am Bau der Autobahn mitarbeiten.

„Vieles wusste ich nicht“, erinnert sich Mair. „Zwangsarbeiterlager Annaberg? Davon hatte ich ja noch nie gehört.“ Jakubowicz erzählt, wie seine Hände beim Verlegen von Schienen am Eisen festfroren, wie er im Lager Markstädt wochenlang Zementsäcke schleppte, wie er bis zur Ohnmacht geprügelt wurde, weil er Lebensmittel an Mithäftlinge verteilt hatte, wie der Zufall ihm immer wieder beim Überleben half: im KZ Fünfteichen, im KZ Groß-Rosen, in Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen.

„Den letzten Zählappell kurz vor der Befreiung des Lagers am 15. April 1945 machte Josef Jakubowicz nicht mehr mit“, heißt es in Birgit Mairs Buch, „Er legte sich neben einen Leichenhaufen und stellte sich tot.“

Das Baby seiner Tante sei erstickt worden, damit es die versteckte Gruppe nicht durch Schreien verrät

Josef erzählt ihr alles, denkt Mair, bis sie feststellt: Über seine Familie spricht er nicht. Sie beginnt gezielt nachzufragen, um zusammen mit Jakubowicz einen Stammbaum zu erstellen, Stück für Stück, Name für Name: 34 Mitglieder seiner Kernfamilie sind ermordet worden. Das Baby seiner Tante, das erzählt er erst, als das Aufnahmegerät nicht mehr läuft, sei erstickt worden, damit es die versteckte Gruppe nicht durch Schreien verrät. In solchen Momenten sei er zusammengebrochen.

Mair ist damals Anfang dreißig. Wie lernt man, mit Geschichten, die einem auf solche Weise anvertraut werden, umzugehen? „Ich hatte ein kleines Wutzi-Baby zu Hause und so viel darüber gelesen, wie die SS Babys ermordet hat. Ich habe viel geweint.“ Als die Interviewarbeit losging, sagt sie, sei auch ihre Muttermilch versiegt.

Die Arbeit ist extrem belastend, aber auch elektrisierend. Auf Jakubowicz folgt Franz Rosenbach, Sinto, Auschwitz-Überlebender. Rosenbach habe sie bei einer Gerichtsverhandlung gegen einen Antifaschisten kennengelernt, die beide aus Solidarität besuchten. Er spricht mit ihr darüber, wie er als Kind die Leichen aus dem Krematorium von Auschwitz schleppen musste. Auf Rosenbachs Beerdigung trifft sie Siegfried Heilig, der den Holocaust versteckt auf Bauernhöfen und in Wäldern Brandenburgs überlebte.

Nazis haben nicht alle kaputt gemacht

Über 600 Gespräche vor Publikum, unzählige gemeinsame Auto- und Zugfahrten, Heimatbesuche. Den größten Eindruck habe Eva Weyl hinterlassen. Weyl war sechs Jahre alt, als ihre Eltern die Koffer packten. Nur ein Umzug, sagten sie. Die Familie kam ins niederländische Lager Westerbork, ein „Durchgangslager in die Vernichtung“.

Nur 5.000 Menschen hätten diese Scheinwelt überlebt. „Eva ist für mich auch ein Vorbild, wie man als Frau älter werden und aktiv bleiben kann“, sagt Mair. „Sie ist an dieser Geschichte nicht verzweifelt, lebt bis heute alleine, fährt Auto, ist total eigenständig. Eine unheimliche Power. Die Nazis haben nicht alle kaputt gemacht.“

Im Jahr 2023 erscheint die erste Auflage des Buches, in dem die Geschichten festgehalten sind. Über einen Schauspieler in Berlin landet ein Exemplar auch in Kalifornien, bei Ernest, geborener Ernst, Glaser. Er, damals 99 Jahre alt, setzt eine Mail an die Autorin auf: „Ich möchte gerne an Ihrem Programm teilnehmen.“ Die ersten Interviews finden via Zoom statt, es ist eine Geschichte, die sich noch einmal deutlich von allen anderen unterscheidet.

Anfang der 30er Jahre lebte die jüdische Familie Glaser mit Onkeln und Tanten und Großeltern in Berlin. Heute sind die Überlebenden und Nachfahren über alle Kontinente verstreut. Fast allen gelang in den 30er Jahren die Ausreise, Ernst und seine Eltern gingen nach Shanghai: Das einzige Ziel, für das man damals kein Visum brauchte, wenn man es auf einen der Luxusdampfer schaffte. „Es war die einzige offene Stadt der Welt“, sagt Mair, „18.000 Juden haben in Shanghai überlebt.“ Aus Glasers exemplarischer Geschichte hat sie ihr jüngstes Buch gemacht, das im Oktober erscheinen soll.

Shanghai war eine Zuflucht, aber kein Paradies. Das eigentliche Sagen, erklärt Mair, hatten ab Ende der 30er Jahre die Japaner. Die wiederum wurden von den Deutschen unter Druck gesetzt, die Juden in China schlechter zu behandeln. Die Familie kam in ein Ghetto: einen von Stacheldraht umzäunten Bereich, den man nur zum Arbeiten verlassen durfte, in dem es auch Gewalt gab. „Die haben dort auch gehungert.

Von Familie erst nichts erzählt

Aber es ist in diesem Ghetto niemand willkürlich ermordet worden, das ist ein Riesenunterschied.“ Nach Zoomcalls und ersten Auftritten Glasers als Online-Videogast bei Veranstaltungen in Deutschland, denkt Birgit Mair 2024: „Der ist jetzt bald hundert. Lange kannst du nicht mehr warten.“ Sie fliegt zu Ernie, wie sie ihn nennt. Glaser konnte nach dem Krieg endlich in die USA emigrieren, wo er sich mit Jobs durchschlug, bis er seinen Schulabschluss nachholte und nach Stanford ging, um Lebensmitteltechnik zu studieren.

Den Rest seines Lebens widmete er der Konservierung. „Diese Karriere ist sein ganzer Stolz. Er hat es den Nazis gezeigt.“ Glaser lebt in der Nähe von San Francisco. Dort setzen Mair und er ihre Gespräche fort. Er öffnet seinen Aktenschrank. Immer mehr Dokumente und Familienfotos drückt er seinem Besuch aus Deutschland in die Hand. Eine Überlebendenbiografie in allen denkbaren Details. Erst da sei ihr klar geworden, dass es ein Buchprojekt ist.

Einen Tag lang hätten sie nur über Berlin gesprochen, einen über Shanghai, einen über die Nachkriegszeit. Am dritten Tag fällt ihr auf: Nur über seine Familie hat er noch nichts erzählt. Es ist das alte Muster. Den vierten Tag widmen sie nur diesem Thema. Mit 15 Stunden Interviewmaterial kehrt sie nach Nürnberg zurück, plus die Vor- und Nachbesprechungen per Zoom, rund 100 E-Mails, drei Ordner voll mit Quellen.

Birgit Mair veröffentlicht nur im Selbstverlag, aus Prinzip. Man könne ja nicht wissen, wie sich ein Verlag in Zukunft politisch entwickle. Die letzten Zeuginnen und Zeugen, das Buch fast 400 Seiten stark, konnte sie dank umfangreicher öffentlicher und privater Förderung für 20 Euro auf den Markt bringen. Beim Glaser-Projekt schaut es weniger gut aus. Das Buch ist layoutet, abgesegnet, druckfertig. Am 16. November soll es in der Berliner Friedenskirche präsentiert werden, Ernie wird per Video zugeschaltet sein. Rund 10.000 Euro koste die Produktion, Arbeitszeit nicht mitgerechnet. Davon sei sie noch weit entfernt. Ein Crowdfunding soll helfen.

Wenn das Buchprojekt abgeschlossen ist, muss sie eine Pause machen, sagt sie. Die Vorträge, die Besuche an Schulen, das geht natürlich weiter. Aber die Arbeit hat sich verändert, die Schü­le­r:in­nen seien generell verschlossener geworden, die rassistischen Provokationen hätten zugenommen. Zu Vorträgen fährt sie nicht mehr allein. „Die werden frecher, also müssen wir unsere Schutzmaßnahmen hochfahren.“

Die, das meint auch die AfD, die immer wieder versucht, ihre Auftritte zu verhindern oder zu stören. Aus Sachsen und Thüringen habe sie seit Jahren so gut wie keine Aufträge mehr bekommen, und auch im Rest des Landes versuchen Auftraggeber, zum Beispiel Stiftungen, sie immer davon zu überzeugen, die Partei doch einfach nicht zu nennen: „Vor Wahlen bin ich kompromissbereit“, sagt sie, „aber generelles Sprechverbot lasse ich mir nicht erteilen. Das mache ich nicht mit.“

Man dürfe nicht aufhören, etwas dagegen zu tun, weniger hirnen, mehr tun. Und zwischendurch auch mal wieder vergessen, heute Abend zum Beispiel, beim Italiener.

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