Erdoğan und der Nahostkonflikt: Der Antisemit vom Bosporus
Erdoğan schockierte zuletzt mit judenfeindlichen Äußerungen. Doch in der Türkei punktet er damit – nicht nur in der eigenen Wählerschaft.
Dass Israels Armee haushoch überlegen ist, führt dazu, dass der Raketenbeschuss aus Gaza im Vergleich zu den Militärschlägen der israelischen Luftwaffe und Artillerie oft als Marginalie gesehen wird. Nicht nur in regierungsnahen Zeitungen wird betont, dass auf aktuell 12 getötete Israelis mehr als 200 getötete Palästinenser*innen kommen, darunter viele Frauen und Kinder.
Wenn Erdoğan von israelischem „Staatsterror“ spricht, beschreibt er für viele nur die Realität. Seine Bemerkungen kommen auch bei regierungskritischen Menschen gut an, auch weil sich der Westen in den Augen der meisten Türk*innen durch Heuchelei auszeichnet.
Zurechtweisungen, wie jetzt von der US-Regierung, die die „antisemitischen Äußerungen“ Erdoğans verurteilte, während die USA im UN-Sicherheitsrat jede Forderung nach einem Waffenstillstand blockieren, kommen deshalb nicht gut an. Erdoğan hatte Israel „Terrorismus“ vorgeworfen und gesagt, dies liege „in der Natur“ der Israelis. „Sie töten Kinder. Sie sind erst zufrieden, wenn sie ihr Blut aussaugen.“
Der Bruch kam 2010
Dabei war die Türkei lange eines der wenigen muslimischen Länder mit guten Beziehungen zu Israel. Noch in den 90er Jahren absolvierte Israels Luftwaffe Übungsflüge in der Türkei. Das Verhältnis änderte sich zunächst auch nach dem Wahlsieg der AKP 2002 nicht. Erdoğan fungierte noch Mitte der nuller Jahre als Vermittler zwischen Israel, den Palästinenser*innen und arabischen Staaten.
Die Veränderung kam erst angesichts des Vormarsches der israelischen Rechten sowie durch das Abrücken der Türkei vom Verbund der westlichen Staaten. Der Bruch kam 2010, als Israel einen Konvoi von Hilfsschiffen für Gaza, der von einer türkischen Hilfsorganisation organisiert worden war, stoppte und dabei neun Türk*innen tötete.
Spätestens seit dem Arabischen Frühling 2011 setzte Erdoğan ganz auf die arabische Karte und die Muslimbruderschaft. Seitdem ist die Kritik an Israel stark religiös konnotiert und Erdoğan versucht, sich als muslimischer Führer zu profilieren. Vor allem in Konfliktphasen ist dann auch sein Antisemitismus unübersehbar.
Dabei war die Türkei für Jüdinnen und Juden lange ein Zufluchtsland. Das begann im 16. Jahrhundert, als der Sultan den von der katholischen Inquisition verfolgten sephardischen Juden Schutz anbot, und blieb im Osmanischen Reich so, wo Jüdinnen und Juden im Gegensatz zu den Christ*innen kaum unter Repressionen litten.
Heute gibt es zwar keine Angriffe auf jüdische Einrichtungen, aber der Antisemitismus hat zugenommen. In der aktuellen Situation versuchen die türkischen Jüdinnen und Juden, möglichst unsichtbar zu bleiben. Gleichzeitig nimmt dann nach Konfliktphasen meist die Zahl der Auswanderungen nach Israel zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg