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Entscheidung über Corona-AufbaufondsKarlsruhe lässt EU-Schulden zu

Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Beschwerden gegen den Corona-Aufbaufonds der EU zurückgewiesen. Demnach darf die EU Kredite aufnehmen.

„Next Gen EU“: Die Milliarden sollen vor allem in Digitalisierung und Klimaschutz gesteckt werden Foto: Dursun Aydemir/picture alliance

Karlsruhe taz | Die EU darf zur Bewältigung der Pandemiefolgen Kredite aufnehmen, obwohl dies in den EU-Verträgen nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Dies entschied an diesem Dienstag das Bundesverfassungsgericht und lehnte die Klagen von EU-Skeptikern ab. In seinem Urteil nannte das Gericht Bedingungen für die Kreditaufnahme der EU.

Konkret ging es um den sogenannten „Wiederaufbaufonds“ der EU. Mit 750 Milliarden Euro sollen die coronabedingten Belastungen der europäischen Volkswirtschaften ausgeglichen werden. Das beschloss ein EU-Gipfel im Juli 2020. Etwa die Hälfte wird an die EU-Staaten als Zuschüsse ausbezahlt, der Rest als Darlehen. Deutschland soll rund 28 Milliarden Euro erhalten. Die EU nennt das Programm „Next Generation EU“, weil das Geld zu großen Teilen in Digitalisierung und Klimaschutz investiert werden muss. Bis 2023 sollen die Milliarden auf der Grundlage von nationalen Wiederaufbauplänen an die Mitgliedstaaten ausbezahlt werden.

Der Aufbaufonds ist bei EU-Skeptiker:innen umstritten, weil die EU damit erstmals in großem Umfang am Kapitalmarkt Schulden aufnehmen darf. Das Geld muss bis 2058 zurückbezahlt werden. Gegen das Schuldenprogramm klagte einerseits Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke, einst Gründer der AfD. Die zweite Verfassungsbeschwerde stammte von dem Unternehmer Heinrich Weiß, Anfang der 1990er Jahre Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Die Kläger monierten vor allem, dass die EU ihre Kompetenzen überschritten habe. Es gebe auf EU-Ebene ein „Verschuldungsverbot“.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts lehnte beide Klagen nun ab. Die EU habe ihre Kompetenzen „nicht offensichtlich“ verletzt. Es sei vertretbar, die EU-Verträge so auszulegen, dass die EU solche Programme mit Krediten finanzieren darf. Die Richter nehmen damit Bezug auf eine eigene Entscheidung von 2010, den so genannten „Honeywell-Beschluss“, wonach sie etwaige Kompetenzüberschreitungen der EU nur rügen werden, wenn diese „strukturell bedeutsam“ und „offensichtlich“ sind. Denn eigentlich ist ja der Europäische Gerichtshof für die Kontrolle von EU-Recht zuständig, nicht ein nationales Verfassungsgericht.

Juristisch gewagte Argumentation

Das Bundesverfassungsgericht akzeptierte nun also die Auslegung der EU-Gremien und des Bundestags, wonach die EU zwar nicht generell Schulden aufnehmen darf, die Kreditaufnahme allerdings als „sonstige Einnahme“ gemäß Artikel 311 EU-Arbeitsvertrag in Einzelfällen zulässig sein kann.

Die Schulden müssen dann aber der Finanzierung eines Zweckes dienen, für den die EU bereits jetzt eine Kompetenz in den EU-Verträgen hat. Im Fall des Corona-Wiederaufbaufonds sei es die Befugnis, den Mitgliedstaaten in Notsituationen gemäß Artikel 122 EU-Arbeitsvertrag zu helfen. Weil solche Notsituationen oft überraschend kommen, sei hier eine Kreditaufnahme unumgänglich.

Die Verfassungsrichter räumen ein, dass die Argumentation juristisch etwas gewagt ist und listen selbst eine Reihe von Bedenken auf. So seien die „sonstigen Einnahmen“ bisher vernachlässigbar gering gewesen, während sie nun plötzlich zwei Drittel des normalen EU-Haushalts ausmachen. Auch hätten die Ausgaben für Klimaschutz nur bedingt etwas mit der Coronapandemie zu tun. Doch die Rich­te­r:in­nen kommen immer wieder zum Schluss, es sei „nicht offensichtlich ausgeschlossen“, dass die EU-Verträge eingehalten sind.

EU muss Schuldenaufnahme regeln

Für künftige Fälle stellen die Rich­te­r:in­nen aber mehrere Bedingungen auf. So muss eine EU-Schuldenaufnahme im EU-Eigenmittel-Beschluss geregelt werden, das heißt: alle EU-Staaten (und in Deutschland auch der Bundestag) müssen zustimmen. Die Kreditaufnahme muss streng auf einen EU-vertraglichen Zweck begrenzt, zeitlich befristet und in der Höhe beschränkt werden. Diese Bedingungen des Bundesverfassungsgerichts sind aber recht großzügig. So dürfte die EU mit Segen aus Karlsruhe immerhin so viele Schulden machen, wie sie klassisch über Beiträge der Mitgliedsstaaten und Zölle einnimmt.

Das Urteil war am Gericht durchaus umstritten. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht noch vor zwei Jahren die Anleihe-Ankäufe der Europäischen Zentralbank und deren mangelhafte Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof als Kompetenzüberschreitungen („ultra vires“-Akte) beanstandet.

Diesmal plädierte aber nur ein einziger Verfassungsrichter, der ehemalige saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller, in einem Sondervotum für strengere Maßstäbe. Er wolle nicht den Weg in eine „Fiskal- und Transferunion“ öffnen, argumentierte Müller. Denn Gründe für neue Schulden gebe es bei „kreativer“ Auslegung der Verträge immer.

Finanzstaatssekretär Florian Toncar (FDP) sagte in Karlsruhe: „Wir sehen uns darin bestätigt, dass der Bundestag und die Bundesregierung verfassungskonform gehandelt haben.“

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3 Kommentare

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  • Das Bundesverfassungsgericht rügt die EU nur für Verstöße, die „strukturell bedeutsam“ und „offensichtlich“ sind.



    Die Schuldenaufnahme durch die EU ist nicht nur einfach ungeregelt sondern in bindenden Verträgen explizit verboten. Ein Verstoß dagegen ist nicht offensichtlich.



    Jemand, der bisher jahrzehntelang in Rahmen seiner Verhältnisse gelebt hat, beginnt von einem Tag auf den anderen, mehr als das Anderthalbfache dessen als Ausgaben zu verkonsumieren, das er als Einnahmen einnimmt. Dieser Wechsel des Lebensstils ist nicht strukturell bedeutsam.



    Klar, ein völlig verständliches und nachvollziehbares Urteil.

  • Man mus sich schon sehr wundern, was man alles für „nicht offensichtlich ausgeschlossen“ halten kann. Jedenfalls stimmt das heutige Urteil nicht mit dem überein, was während meines Studiums gelehrt worden ist.

    Abgesehen vom bisher stets matraartig vorgetragenen Verbot der Schuldenaufnahme selt sich die Frage, was die Förderung des Klimaschutzes mit den Folgen der Coronapandemie zu tun haben soll.

    Das Verfassungsgericht wollte offensichtlich einem weiteren Konflikt mit der EU vermeiden. Der EuGH hat hingegen noch nie gegen die Politik der Kommission entschieden und noch nie einen Verstoß gegen die EU Verträge erkannt.

    Angesichts dieser Ausgangslage brauchen wir zukünftig weder die genannten Gerichte noch die EU-Verträge, wenn die Politik eh schalten und walten kann wie sie will. Pragmatiker mögen darin ein gutes Ergebnis erkennen wollen, ein schlechter Tag für regelbasierte Anhänger und Befürworter der EU.

  • An dem Urteil ist nichts erstaunlich. Anderes war von einem "Gericht" nicht zu erwarten, das inzwischen zu nichts anderem als dem verlängerte Arm der desolaten Politik geworden ist.