Entscheidung im US-Vorwahlkampf: Nachdenken über Joe Biden
Oje! Obamas Vizepräsident hat Chancen, bei den US-Wahlen Trumps Herausforderer zu werden. Ausgerechnet er, der noch nie etwas Originelles gesagt hat.
W enn es wirklich ans Eingemachte geht – darf ich meine alte Mutter noch besuchen, oder ist das in Zeiten der Seuche verantwortungslos? –, dann schwindet das Interesse an längerfristigen politischen Fragen rapide. Wer CDU-Vorsitzender wird und wann, das ist den meisten Leuten derzeit herzlich egal. Wer Präsidentschaftskandidat der US-Demokraten wird: ebenfalls.
Das wird allerdings nicht so bleiben. Es gibt ein Leben nach Corona, und vermutlich reiben wir uns alle in einigen Monaten verblüfft die Augen, wenn allmählich in unser Bewusstsein dringt, was im Schatten der Krise alles so passiert ist. Zum Beispiel die Entscheidung der Demokraten, dass Joe Biden bei den Wahlen im November gegen Donald Trump antreten soll. Sie ist noch nicht endgültig gefallen, aber die Zeichen sind unübersehbar.
Joe Biden! Ja, ich habe immer gesagt, dass ich sogar Homer Simpson lieber im Weißen Haus sähe als den Amtsinhaber. Aber Joe Biden? Der oft verwirrt wirkt, der niemals einen originellen Gedanken formuliert hat? Nicht einmal Barack Obama konnte es bisher über sich bringen, seinen ehemaligen Vize öffentlich zu unterstützen.
Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt. Sollte es ihn geben, dann hat er Sinn für schwarzen Humor. Eine Entwicklung, die der US-Bevölkerung nur noch die Wahl zwischen Donald Trump, Joe Biden und Bernie Sanders lässt – Stand heute –, ist anders nicht erklärbar.
Nun war ich nie ein Fan von Bernie Sanders. Es ist in der Politik üblich, dass mehr versprochen wird, als gehalten werden kann. Sanders treibt es jedoch auf die Spitze. Für viele seiner Pläne braucht er die Zustimmung des Kongresses, für andere die der einzelnen US-Bundesstaaten. Darüber redet er allerdings nie. Sondern tut stets so, als könne er nach seiner Wahl zum US-Präsidenten all das sofort umsetzen, was ihm so vorschwebt. (Darin unterscheidet er sich nicht von Trump.)
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das hat Sanders übrigens schon 2016 getan. Bereits damals fand ich das populistisch. Aber das sprach aus meiner Sicht eher für als gegen ihn. Populismus entspricht dem Zeitgeist. Lange habe ich geglaubt, dass es einen Populisten braucht, um einen Populisten zu schlagen.
Vielleicht habe ich mich getäuscht. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass die Gegnerinnen und Gegner von Trump sich vor allem nach einer rationalen Diskussion sehnen, nach einem Ende der Polarisierung und dass sie allzu einfache Antworten auf schwierige Fragen satthaben. Pragmatismus statt Prinzipien: der neue Trend? Ja, kann sein.
Übrigens nicht nur in den USA. Wer sich Umfragen zum Thema „Aufnahme von Geflüchteten“ in Deutschland anschaut, wird feststellen, dass es auch hierzulande der Mehrheit nicht um letzte Antworten auf ewige Fragen geht. Sie setzt sich schlicht damit auseinander, ob ihre Kommune es verkraften könnte, für einige Kinder zu sorgen. Und kommt zum Ergebnis: Ja. Die Bevölkerung ist mutiger als die politische Klasse, die bei ihren Entscheidungen ängstlich darauf schielt, ob sie den Rechtsextremen weiteren Aufwind verschaffen könnten.
Aber ausgerechnet Joe Biden als last man standing, wenn es um Rationalität geht? Ja, Gott hat Sinn für Humor. „US-Präsident Joe Biden“ hört sich seltsam an. Ich glaube nicht, dass er der Aufgabe gewachsen ist. Immerhin ist er wenigstens nicht zynisch, nicht bösartig, kein Menschenfeind. Das ist nicht wenig, gemessen an dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Okay. Also: Kämpfen wir – innerhalb unserer jeweiligen Möglichkeiten – für Joe Biden. Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade geschrieben habe.
Postskriptum: Niemand kann derzeit die wirtschaftlichen Folgen von Corona vorhersehen. Aber sie sind für Donald Trump eine ernste Bedrohung. US-Präsident Joe Biden? Nicht ausgeschlossen. Oh my.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?