Entrechtet in der Haftanstalt: Gefesselt bis der Arzt kommt
Die Inhaftierte Natasa L. muss bei jedem Krankenhaustermin gefesselt sein. Das ist unwürdig, findet das Gericht. Die JVA setzt es trotzdem durch.
Dabei ist Natasa L. keine Schwerverbrecherin. Seit 2022 sitzt sie in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder, im Frauenknast. Ihre Inhaftierung beruht auf zahlreichen Diebstahl- und EC-Kartenbetrugsdelikten. L. klaute in Supermärkten, Bekleidungsgeschäften und Restaurants, entwendete Brieftaschen und Handtaschen. Im Bundeszentralregister liegen 47 Einträge zu ihrer Person vor, fast alle davon sind Diebstähle oder EC-Karten-Betrüge, oft auch unter Bewährungsauflagen. L. ist spielsüchtig.
L.s Haftstrafe ist derzeit bis zum Jahr 2032 angeordnet, doch das wird sie wahrscheinlich nicht mehr erleben. Die 53-Jährige ist unheilbar krebskrank, sie hat Metastasen im Darm, in den Knochen und der Lunge. Sie hat Operationen, Chemotherapie und Bestrahlung hinter sich, aber mittlerweile dient die Behandlung nur noch der Lebenserhaltung und Schmerzlinderung.
Wenn die Inhaftierte zur Behandlung ins UKE muss, fährt ein Gefangenentransporter sie dort hin. Zwei Justizvollzugsbeamte fahren mit ihr. An Händen oder Füßen werden L. zudem Stahlfesseln angelegt, die ihr weder in den Fluren des Krankenhauses noch auf der Station abgenommen werden. Wenn es nach der JVA geht, soll L. selbst in der Röhre zur Magnetresonanztomographie (MRT) gefesselt sein. Ihre Stahlfesseln könnten zu diesem Zweck abgenommen und gegen Kunststofffesseln getauscht werden, empfiehlt die Haftanstalt in einem Schreiben.
Zusätzliche Belastung
Ist es wirklich nötig, die schwerkranke Frau durchgehend zu fesseln? „Natürlich nicht“, sagt Mechsner. „Es ist ein unnötiger und unverhältnismäßiger Eingriff in das Persönlichkeitsrecht meiner Mandantin.“ Die Fesselung stelle eine zusätzliche Belastung für die ohnehin schwer belastete Patientin dar, außerdem stigmatisiere es sie gegenüber dem Klinikpersonal. Der zusätzliche Stress könne sich negativ auf die Gesundheit ihrer Mandantin auswirken.
Anfang Juli musste Natasa L. einige Tage im UKE verbringen. Durch eine Operation an der Lunge wollten die Ärzte Klarheit darüber gewinnen, ob sich dort weitere Primärkarzinome befänden. Im April beantragte Mechsner bei Gericht, dass die Behandlung ohne Fesseln erfolgen würde. „L. wird nicht fliehen“, argumentierte Mechsner. „Dazu ist sie körperlich gar nicht mehr in der Lage.“ Zudem wolle sie die wenige Zeit, die ihr noch vom Leben bliebe, mit ihren fünf Kindern verbringen. Außerdem habe sich L. in der Vergangenheit kooperativ gezeigt, sich ihrer Haft freiwillig gestellt und keine Fluchtversuche unternommen.
Die Leiterin des Frauengefängnisses argumentierte dagegen. L. habe ja gar keine Chance mehr auf Heilung. Daher würde sie es wohl bevorzugen, den Rest ihres Lebens mit ihren Kindern in Freiheit zu verbringen. „Als serbische Staatsangehörige und Mitglied der Volksgruppe der Roma ist außerdem anzunehmen, dass sie über eine erhebliche Anzahl an Kontakten in Serbien und Umgebung verfügt, um eine Flucht zu ermöglichen“, schreibt die JVA. L. besitze derzeit nicht mal einen Aufenthaltstitel.
Das Hamburger Landgericht folgte der Anwältin. „Eine Fesselung in den Behandlungszimmern verstößt gegen die Menschenwürde“, stellte die Kammer fest. Die Richterin ordnete an, Natasa L. dort die Fesseln abzunehmen. Auf dem „unübersichtlichen Gelände des Universitätsklinikums“ solle sie hingegen weiter gefesselt sein.
Doch Mechsner misstraute der JVA-Leitung. Sie befürchtete, diese würde die Anordnung des Gerichts so auslegen, dass Natasa L. lediglich im OP-Saal ungefesselt sein dürfte. „Bitte versichern Sie mir, dass die ‚Behandlung‘ von Frau L. bis zu ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus andauert“, schrieb die Anwältin der JVA. „Sehr geehrte Frau Mechsner, Ihre Mandantin wird während der gesamten im UKE stattfindenden Behandlung nicht gefesselt“, antwortete der stellvertretende Leiter der Einrichtung, Martin Höfinghoff.
Doch die JVA hielt sich nicht an ihr Wort, wie Mechsner bei ihrem Besuch am Sonntag nach der OP feststellen musste. Mit „Behandlungszimmer“ sei nicht das Stationszimmer gemeint gewesen, interpretierte die JVA den Gerichtsbeschluss, wie Mechsner es bereits befürchtet hatte. Dass die JVA-Leitung dies in der schriftlichen Kommunikation auch noch zu verschleiern versucht habe – „Das macht mich unfassbar wütend!“, sagt Mechsner gegenüber der taz.
Falsche Absage des OP-Termins
Die Patientin sei auf dem Stationszimmer an ein Beatmungsgerät angeschlossen sowie mit Drainage und Schmerzmedikation versorgt, daher sei es sehr wohl ein Behandlungsraum. Und selbst, wenn nicht: „Zwei JVA-Bedienstete im Zimmer der gerade an der Lunge operierten Krebspatientin sollten wohl ausreichen, um die Fluchtgefahr zu bannen.“ L. sei rigoros von ihrer Familie abgeschirmt worden, hätte keinen Besuch empfangen dürfen. Einige Tage vor ihrer OP hätten ihr die Justizbediensteten sogar gesagt, der OP-Termin sei abgesagt worden – damit niemand aus ihrer Familie auf die Idee kommen würde, sie zu besuchen.
Erst auf Druck der Anwältin teilte die Anstalt ihr mit, der Termin würde doch stattfinden. L. sei wütend und traurig gewesen, berichtet Mechsner. „Dass die JVA nicht in der Lage oder willens ist, eine schwerkranke Frau würdig zu behandeln, finde ich sehr bedenklich“, sagt Mechsner. Die für die JVA zuständige Justizbehörde schaffte es nicht, sich innerhalb von zwei Tagen auf entsprechende taz-Anfragen zu äußern.
Mechsner kündigte an, Fachaufsichtsbeschwerde gegen die JVA-Leitung einzulegen. Außerdem beantragte sie bei Gericht die Feststellung der Rechtswidrigkeit. Ihre Mandantin ist zwar mittlerweile aus dem UKE entlassen und zurück in der JVA. Doch ins UKE wird sie noch einige Male gebracht werden müssen.
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