Entlastungspaket der Bundesregierung: Eine neue Armutsdebatte
Krisen und steigende Preise machen vielen Menschen Angst, in Armut abzurutschen. Wichtig wäre jetzt ein Inflationsschutz für Grundsicherungsempfänger.
E s gibt krasse Armutslagen. In London erzählte eine Rentnerin einem Stadtmagazin, dass sie nur noch jeden zweiten Tag ihre Toilettenspülung betätige, um Wasserkosten zu sparen. Ein zwangsgeräumter Rentner zieht als Obdachloser auf die Straße vor seinem Haus, um noch etwas Heimatgefühl zu spüren. So extrem ist es in Deutschland nicht, aber auch hier frisst sich die Armut von unten in die Gesellschaft hinein. Die neue Armutsdebatte unterscheidet sich dabei fundamental von der Diskussion um die Jahrtausendwende.
In den nuller Jahren war die Massenarbeitslosigkeit das politische Schreckgespenst. Heute suchen die Betriebe händeringend Arbeitskräfte. Aber das nützt jungen Leuten nichts, die zwar Jobs, aber in den Städten keine Wohnung für die Familiengründung finden. Alleinerziehende, chronisch Kranke, die in der Jobwelt nicht bestehen können, fürchten, zu verarmen – ebenso wie Alte, deren Rente nicht mehr für die steigende Miete reicht.
Pandemie, Ukrainekrieg, Klimakrise, Urbanisierung: Die sich überlagernden Krisen und dazu steigende Preise machen Angst. Das Paket mit Einmalzahlungen für Hartz-IV-Empfänger:innen und das 9-Euro-Ticket wurden am Donnerstag im Bundestag abgestimmt, beziehungsweise in erster Lesung beraten. Diese und andere Hilfen sollen Entlastung bringen. Vieles davon ist richtig, aber die Passgenauigkeit ist ein Problem: Tankrabatte und superbillige Nahverkehrstickets sind für Gutverdienende überflüssig. Wir brauchen vielmehr eine Diskussion über neue Abgaben auf hohe Vermögen und Erbschaften. Wann, wenn nicht jetzt, soll diese Debatte kommen?
Die Grundsicherung muss ausgebaut werden. Es ist richtig, wie schon in der Coronakrise, dass Menschen Grundsicherung beantragen können und dabei ein kleines Geldpolster und ihre Wohnung behalten dürfen. Doch überdies sollte zumindest ein Inflationsschutz für Grundsicherungsempfänger:innen eingebaut werden, der bei starken Preiserhöhungen die Regelsätze zeitnah anhebt. Das wäre ein Thema für künftige Armutsdebatten. Sie werden kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen