Entführte Jesidinnen im Nordirak: Das Geschäft der Jesiden-Befreiung

Im Nordirak befreien Jesiden die entführten Frauen und Kinder, die in der Gewalt des IS sind. Der Genozid ist noch gar nicht aufgearbeitet.

Menschen stehen vor einem Zelt vor einer

Viele warten noch auf Familienmitglieder: Menschen im Flüchtlingslager Sindschar Foto: André Liohn/Prospekt

NORDIRAK taz | Haji Hamid Tallu hat ein Poster gebastelt. Dutzende Fotos, fein säuberlich nebeneinander geklebt, zeigen die Gesichter von Männern, Frauen und Kindern. Es sind seine Angehörigen. Diejenigen, die der „Islamische Staat“ (IS) getötet oder entführt hat. Vier Jahre ist es her. Von vielen fehlt bis heute jede Spur.

Tallu stammt aus einem kleinen Dorf im nordirakischen Distrikt Sindschar. Am 3. August 2014 fiel der IS in der Region ein. Er tötete Tausende Männer und entführte über 6.000 Frauen und Kinder. Darunter: 77 von Tallus Verwandten.

Viele der Frauen wurden als Sklavinnen verkauft und vergewaltigt. Buben ab acht Jahren wurden in Trainingslager gesteckt und zu Kämpfern ausgebildet. Der UNO-Menschenrechtsrat verurteilte die Verbrechen des IS an den Jesiden später als Völkermord.

Heute, mehr als vier Jahre später, gilt der IS im Irak offiziell als besiegt. Doch für die Jesiden bedeutet dieser Sieg wenig. Die Massengräber in Sindschar, in denen Tausende Männer begraben liegen, wurden bis heute nicht systematisch untersucht. Viele können daher nur vermuten, dass ihre vermissten männlichen Angehörigen tot sind. Von den Frauen und Kindern, die 2014 entführt wurden, befindet sich über die Hälfte bis heute in Gefangenschaft des IS. Seit August 2017 bezeichnet der UNO-Menschenrechtsrat den Genozid daher als „andauernd“.

Am 20. März 2003 begann der Irakkrieg mit Luftangriffen auf die Hauptstadt Bagdad. Im Mai 2003 erklärte US-Präsident Bush die größeren Kampfhandlungen für beendet und der Irak wurde in Besatzungszonen aufgeteilt.

Nach Bildung eines Übergangsrates Ende 2003 wurde der bis dahin von der Koalitions-Übergangsverwaltung ausgeübte Verwaltungsauftrag am 28. Juni 2004 einer repräsentativen irakischen Übergangsregierung übertragen.

Am 15. Oktober 2006 rief al-Qaida im Irak einen islamischen Staat aus, der insgesamt sechs Provinzen umfassen solle.

Im August 2010 verließen die letzten US-Kampftruppen das Land, seitdem befanden sich noch 50.000 Ausbilder und Militärberater im Land. Deren Abzug wurde am 18. Dezember 2011 abgeschlossen.

Ab 2014 wurden Teile des Iraks, wie die Stadt Mossul, von der Terrororganisation Islamischer Staat im Irak und der Levante besetzt. Seit der „Islamische Staat“ (IS) im August 2014 seinen Vormarsch im Nordwesten des Landes begann, wurden 3,2 Millionen Menschen vertrieben.

Seit August 2014 praktiziert der IS einen Völkermord an den Jesiden.

In Tallus Familie sind 42 Mitglieder noch immer verschollen. Zwölf Angehörige kaufte Tallu mit Hilfe von Schleppern frei. Insgesamt 35 kehrten im Laufe der vergangenen vier Jahre zurück. Einigen war die Flucht gelungen. Darunter auch seiner Tochter Aschwaq, die nach ihrer Flucht aus den Fängen des IS als Flüchtling nach Deutschland kam und im vergangenen Sommer für Schlagzeilen sorgte, weil sie in Schwäbisch Gmünd nach eigenen Aussagen ihrem Peiniger vom IS begegnet war. Sie kehrte zwischenzeitlich freiwillig in den Irak zurück. Anderen Jesidinnen in Deutschland droht dagegen die Abschiebung.

Die Frauen und Kinder, die sich bis heute in Gefangenschaft befinden, werden in Syrien vermutet, an dem letzten Flecken des Bürgerkriegslands, der noch in den Händen des IS ist. Einige könnten auch in der Türkei sein, weil ihre Peiniger vom IS dorthin geflohen sind und „ihre“ Jesiden mitgenommen haben. Und es kursieren Gerüchte, dass ein Teil der Jesiden zusammen mit IS-Familien als Flüchtlinge getarnt in den Unterbringungslagern rund um Mossul und in Nordsyrien ausharren. Doch dafür gibt es keine Belege.

Bei der Suche nach ihren Vermissten sind die Verwandten fast gänzlich auf sich allein gestellt. Um sie ausfindig zu machen und zu befreien, sind die Familien auf Schlepper angewiesen. Einer von ihnen ist Abdullah Shrim. Er ist selbst Jeside aus Sindschar und musste 2014 vor dem IS fliehen. Früher hat Shrim als Imker gearbeitet, eine Zeit lang auch als Händler in Aleppo. Doch als der IS Sindschar überrannte, habe sich sein Leben fundamental geändert, erzählt er, während er auf einer Matratze in einem Haus außerhalb der kurdischen Stadt Dohuk sitzt, wo er momentan mit seiner Familie lebt.Ins Geschäft der Jesiden-Befreiung rutschte er zufällig. Auch Shrim hat Angehörige, die sich in Gefangenschaft des IS befinden. Seine Nichte Marwa rief ihn im November 2014 an und bat um Hilfe. Sie war zu dem Zeitpunkt bei einem IS-Kämpfer in der syrischen Stadt Rakka gefangen. Zusammen mit Bekannten aus seinem früheren Leben in Aleppo gelang es Shrim, sie zu befreien. „Ich habe gemerkt, dass ich ein Flair für diese Arbeit habe“, sagt er. Also machte er weiter.Mittlerweile habe er fast 400 Jesiden befreit, „so viele wie niemand sonst“, sagt er stolz. Die meisten davon aus Syrien. Um die Frauen herauszuschmuggeln, arbeitet Shrim mit einem Netzwerk an Leuten zusammen, die sich im IS-Gebiet selbst befinden oder auf dem Weg in den Irak. Denn selbst, wenn ein Kämpfer beschließt, „seine“ Jesidin für ein paar Tausend Dollar zu verkaufen, muss sie noch an den Checkpoints des IS vorbei. „Die meisten, die mit mir an vorderster Front in den IS-Gebieten arbeiten, sind Frauen“, sagt Shrim. Ansonsten will er keine Details über seine Arbeit preisgeben.

Viele Jesiden fühlen sich im Stich gelassen. Sie haben das Gefühl, dass sich die Welt nicht mehr für ihr Schicksal interessiert. Haji Hamid Tallu ließ im vergangenen Dezember sogar einen Brief ins Englischeübersetzen und schickte ihn an verschiedenen Hilfsorganisationen. Darin bittet er um finanzielle Unterstützung, um seine übrigen Verwandten aus der Gefangenschaft befreien zu können.

Die einzige staatliche Einrichtung, die sich für die Befreiung der Jesiden einsetzt, ist ein Büro der kurdischen Regionalregierung in Dohuk. Es wurde 2014 ins Leben gerufen und übernimmt in der Regel die Bezahlung des Lösegelds – meist mehrere Tausend Dollar. Allerdings beklagen sowohl Tallu als auch andere, dass sie die Kosten für die Befreiung ihrer Verwandten am Ende häufig doch selbst tragen müssen – weil das Büro kein Geld mehr hatte. Dafür verschuldeten sie sich bei Freunden und Verwandten.

Aber auch der Vorsitzende des Büros, Hussein Qaidi, klagt: „Niemand unterstützt uns“, sagt er. „Weder die UNO noch irgendeine Regierung.“ Er wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für das Schicksal der vermissten Jesiden. „Für Haider Al-Abadi (ehem. irakischer Ministerpräsident) mag der IS im Irak besiegt sein. Für all jene, die noch in Gefangenschaft sind, ist er es nicht.“

Konkurrenz zwischen Bagdad und Erbil

Eigentlich sei die irakische Regierung verantwortlich, das Leben der Bürger zu schützen, und somit indirekt auch verpflichtet, sich um den Verbleib der Vermissten zu kümmern, sagt Belkis Wille, Verantwortliche für den Irak bei Human Rights Watch. „In einem ersten Schritt müssten die Massengräber untersucht werden.“ Die sterblichen Überreste müssten geborgen und die Toten identifiziert werden. Erst wenn klar sei, wie viele Jesiden tot sind, könnte die Regierung in Bagdad Ermittlungen über den Verbleib aller anderen veranlassen.

Doch die Verantwortung für die Untersuchung der Massengräber teilen sich die Behörden der irakischen Zentralregierung in Bagdad mit der kurdischen Autonomieregierung in Erbil. Das entsprechende Gesetz Nummer fünf über die Sicherung von Massengräbern stammt aus dem Jahr 2006. Es ist zugeschnitten auf die Aufarbeitung der Verbrechen des Saddam-Regimes. Ein Großteil der Opfer der Diktatur waren Kurden, weshalb die gemeinsame Zuständigkeit gesetzlich festgehalten wurde.

Grafik: Infotext Berlin

Dies erweist sich nun, da es sich bei den Opfern um die Minderheit der Jesiden handelt, als Hindernis. Bis heute konnten sich Bagdad und Erbil nicht auf ein Vorgehen einigen. Die über 60 Massengräber in Sindschar sind bis heute unberührt und ungesichert. Die politischen Rivalitäten führten dazu, dass sich beide Regierungen gegenseitig blockierten. Keiner will dem anderen die Führung in den Untersuchungen überlassen – weil dies einer Anerkennung des Anspruchs auf den Distrikt Sindschar gleichkommen könnte, auf die beide Parteien Anspruch erheben.

Für Angehörige wie Hajji Hamid Tallu, die weiter mit der Ungewissheit leben, ob ihre Vermissten irgendwann noch zurückkommen, ist das zermürbend. Und auch für die Aufarbeitung des Völkermords an den Jesiden durch den IS kann dies Folgen haben: Je länger die Massengräber unberührt bleiben, desto schwieriger wird es, mögliche Kriegsverbrechen nachzuweisen.

Nadia Murad, jesidische Aktivistin, IS-Überlebende und seit vergangenem Jahr Friedensnobelpreisträgerin, forderte jüngst bei einem Treffen mit dem irakischen Präsidenten ein Sonderteam. Dieses solle das Schicksal der verschleppten Jesidinnen aufklären. Geschehen ist seither nichts.

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