Ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine: Wie der Hass in mir wächst
Vor sechs Monaten begann Russland den Krieg in der Ukraine. Unsere Autorin hat viel vom ihm gesehen. Aus Wut wurde Hass – ein bösartiges Gefühl.
A nastasia, aus dieser Sache kommst du nicht moralisch gesund heraus“, sagte mir neulich ein Bekannter. „Ich weiß“, antwortete ich trocken. Ich weiß das, weil ich spüre, wie in mir der Hass wächst. Ein Gefühl, das ich hasse und das mich wahrscheinlich noch nie zuvor in meinem Leben wirklich ergriffen hat. Daher sollte ich mich bei der Russischen Föderation für ihre große Invasion in der Ukraine wohl bedanken.
Obwohl der Krieg Russlands mit der Annexion meiner Heimat – der Halbinsel Krim – bereits vor acht Jahren begonnen hat, war es nicht Hass, den ich damals verspürte. Auch, wenn mir mein Haus weggenommen, ich von meiner Familie getrennt und all meine Kindheitserinnerungen zerstört wurden. Die russische Propaganda vernebelte den Verstand meiner Mutter. Meinen Vater, der während der Besatzung starb, konnte ich nicht beerdigen. Wo sein Grab ist, weiß ich bis heute nicht. Doch auch nach all diesen Dingen empfand ich zwar Wut, jedoch keinen Hass, obwohl es dafür Gründe genug gegeben hätte.
Dann begann der Krieg im Donbass, über den ich all die Jahre berichtet habe. Ich sah das Leiden der Menschen, ihre Trauer und ihren Tod. Trotzdem dachte ich weiterhin, dass dies ein Krieg des Kreml mit seinen geopolitischen Fantasien sei, die Sowjetunion neu zu erschaffen, nicht aber ein Krieg aller Russ*innen. Am 24. Februar 2022 änderte sich alles, als mich morgens um sechs Uhr ein Anruf weckte. Aus dem Hörer erklang eine metallische Stimme: „Sie bombardieren Kyjiw. Die ganze Ukraine bombardieren sie.“
Aus der Angst wird Wut
Bei diesen Worten begann mein Herz zu rasen, meine Handflächen zu schwitzen. Obwohl ich über 1.000 Kilometer von der Ukraine entfernt war, packte mich die Angst. Die nächsten Tage schlief ich nicht. Mit zu viel Adrenalin im Gehirn konnte ich die Situation nicht angemessen beurteilen. Was geschah, kam mir unwirklich vor, das tut es manchmal immer noch. Es ist schrecklich und schmerzhaft zu sehen, wie deine alte Welt zerstört wird, Millionen Menschen in den Westen fliehen, in der Hoffnung, sich zu retten, und wie Zehntausende Quadratmeter deines Landes besetzt werden. Russland sorgte dafür, dass es in der Ukraine keinen einzigen sicheren Ort mehr gab.
Schrittweise begann die Angst sich zu verflüchtigen, an ihre Stelle trat Wut. Sie wuchs exponentiell mit jeder neuen russischen Bombe oder Rakete, die auf friedliche ukrainische Städte niederging. Sollte die russische Führung beabsichtigt haben, die Ukrainer*innen auf diese Weise einzuschüchtern und Panik zu säen, dann erreichte sie genau das Gegenteil. Die Ukrainer*innen verloren ihre Angst vor Russland und auch vor dessen Armee, obwohl sie technisch und zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegen war.
Fast alle Menschen waren wie eine Feder, die, wenn man sie lange genug zusammendrückt, sich wieder gerade biegt. So war das auch mit dem Gefühl der Angst.
In den ersten Apriltagen fuhr ich nach Butscha. Als ich sah, wie viel Grausamkeit und Trauer die russischen Truppen dort hinterlassen hatten, keimte die erste Saat des Hasses in meinem Herzen auf. Der Anblick Dutzender verstümmelter Leichen und der süß-saure Geruch ihrer verwesenden Körper werden wohl nie mehr aus meinem Kopf verschwinden.
Kinder wie Lisa gibt es viele
Ich erinnere mich an einen Hof in der Nähe des Eingangs eines kleinen Hauses. Dort lagen zwei Leichen – ein alte Frau mit dem Gesicht nach unten und neben ihr ein alter Mann. Die ersten Frühlingsblumen hatten schon begonnen zu sprießen. Drei Schritte von ihnen entfernt lag ihr toter Hund. Sie waren mit gezielten Schüssen niedergestreckt worden, einfach so und ohne Grund, wie auf einem Schießstand.
Was fühlst du, wenn du solche Dinge überall dort entdeckst, wo auch russische Soldaten waren? Ich habe während dieser schrecklichen sechs Monate in verschiedenen Teilen der Ukraine Dutzende ähnlicher Geschichten gesammelt. Sie tragen alle die gleiche Handschrift und das gleiche hässliche Gesicht – das Gesicht der russischen Besatzer.
Die Saat des Hasses begann mit jedem neuen Massenmord an den Ukrainer*innen zu wachsen – in Mariupol, Krementschuk, Kramatorsk, Winnyzja, Oleniwka, Mykolajiw, Odessa und anderen Städten. Auch jetzt, während ich diesen Text schreibe, erreicht mich die Nachricht von einem neuen Raketenangriff auf ein Wohnhaus in Charkiw. Die russische Gewalt findet seit sechs Monaten jeden Tag statt. Wie viel kommt da noch? Wie viel Saat wird noch aufgehen?
Unter solchen Bedingungen ist es sehr schwierig, nicht zu hassen, selbst wenn man ein überzeugter Pazifist ist. Auch ich habe immer jede Militarisierung verurteilt und geglaubt, dass es möglich sei, aus jedem Konflikt durch einen Dialog herauszukommen. Übrigens höre ich dieses Argument sehr oft in Deutschland. Ich könnte dem sogar zustimmen, wäre da nicht die vierjährige Lisa in Winnyzja, die von einer russischen Rakete vor den Augen ihrer Eltern in Stücke gerissen wurde. Kinder wie Lisa gibt es viele in der Ukraine, 361 sind es. Wie sollte man da keinen Hass empfinden?
Früher Antimilitaristin
Dieses bösartige Gefühl kann einen von innen zerstören, aber in einem Krieg gibt es Kraft, nicht aufzugeben. Es ist mir unangenehm das zuzugeben, aber dieses Gefühl wächst in mir – gegen meinen Willen. Dazu beigetragen hat der große Krieg Russlands gegen mein Land. Der brutale Angriff dringt so tief ein, dass er sogar ein lange entwickeltes Weltbild verändern kann.
Von einer Antimilitaristin wurde ich zu einer Person, die zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aufruft, weil mir klar ist, dass es ohne sie unmöglich ist, Russland aufzuhalten. Sich mit jemandem an einen Verhandlungstisch zu setzen, der nur eine knallharte Sprache versteht und grundsätzlich nicht an das Existenzrecht eines Landes und einer Nation glaubt, ist völlig absurd.
Die bittere Ironie des Krieges besteht darin, dass Moskaus Raketen auch solche Städte zerstören, wo die Menschen Russland wohlgesonnen waren. Jetzt empfindet die Mehrheit der Bewohner*innen der Ukraine Wut, Empörung, Hass und Abscheu gegenüber Russland. Im Süden, Osten, Norden und Westen des Landes.
Mit seinem Überfall auf die Ukraine wollte Putin vordergründig die Rechte aller Russischsprachigen schützen. Jetzt jedoch wenden sich die Menschen in den Städten, in denen mehrheitlich Russisch gesprochen wird, von der russischen Sprache ab. Ein hervorragendes Ergebnis der „Spezialoperation“, oder etwa nicht?
Wer in Russland schweigt, ist Komplize
Zu dem Gefühl des Hasses kommt Verachtung hinzu. Viele Ukrainer*innen hatten erwartet, dass die Russ*innen am Morgen des 24. Februar auf die zentralen Plätze ihrer Städte kommen würden, um gegen diesen blutigen Krieg zu protestieren, der in ihrem Namen geführt wird. Aber das ist nicht passiert. Ganz im Gegenteil. Vielmehr begannen diese Millionen als Zeichen der Unterstützung überall „Hakenkreuze der neuen Zeit“ zu zeichnen – die Buchstaben Z und V. Dieser Zynismus zerstörte die letzte Hoffnung der Ukrainer*innen, dass sich die Russ*innen aus ihren autoritären Fesseln befreien könnten.
Das trifft auch auf russische Oppositionelle und liberale Journalist*innen zu. Denn jede*r Zweite von ihnen hat imperiale Ambitionen in der Tasche, wenn es um die imaginäre Größe ihres Landes geht. Ein jeglicher Grund für die Russen*innen, sich selbst als Großmacht zu betrachten, hätte sich am 24. Februar um 4 Uhr morgens erledigt haben sollen.
Die russische Gesellschaft ist von einer tödlichen Krankheit befallen. Das gilt nicht nur für diejenigen, die Putin blind glauben, sondern auch für diejenigen, die ihn stillschweigend verurteilen. Wer in einer solchen Situation schweigt, macht sich zum Komplizen. Aber die Geschichte kennt Fälle wundersamer Heilungen selbst von den schrecklichsten Krankheiten.
Um dies zu tun, muss sich jede*r in Russland das Ausmaß des Bösen eingestehen, das er oder sie in der Ukraine begeht, es aufrichtig bereuen und eine Strafe akzeptieren, um für die eigene Schuld zu büßen. Dann wird die russische Gesellschaft in der Lage sein, neu anzufangen und das Land aus der Asche wieder aufzubauen, in die Putin es verwandelt hat. Endlich anzufangen, Universitäten und Bibliotheken zu bauen, anstatt Raketen und Panzer.
Es ist nicht nur Putins Krieg
Die Reste der Zivilgesellschaft in Russland sollten ihre Bemühungen jetzt nach innen richten, den Dialog mit ihren eigenen Bürger*innen suchen und nicht ein mögliches Verbot von Touristenvisa für Russ*innen in Europa kritisieren. Denn während die Bewegungsfreiheit der Russ*innen eingeschränkt wird, werden Ukrainer*innen ihres Lebens beraubt. Warum gibt es viel mehr empörte Stimmen gegen Visabeschränkungen als gegen den Krieg in der Ukraine? Eine rhetorische Frage, versteht sich.
Dies ist nicht nur der Krieg von Putin und seinen Gefolgsleuten. Dies ist ein Krieg aller Russ*innen, den ihr Präsident in ihrem Namen führt – der Präsident des Landes, das er in den Augen der Welt verkörpert. Nicht Putin tötet Menschen in der Ukraine, das tun Russ*innen. Es war ein russischer Soldat, der Sergei, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren, in Butscha in den Hinterkopf geschossen hat. Es war ein russischer Soldat, der Oksana in Irpin vergewaltigt, Oleg in Motyschyn gefoltert, Max in Moschtschun erschossen, eine Fliegerbombe auf ein mehrstöckiges Wohnhaus in Borodianka geworfen und Raketen vom Kaspischen Meer auf Lwiw und Kyjiw abgefeuert hat.
Der Hass der Ukrainer*innen auf die Russen wird noch viele Jahre fortbestehen, auch nach dem Ende des Krieges. Aber ich bin sicher, dass die Ukrainer*innen in der Lage sein werden, ihn konstruktiv zu wenden – in Richtung eines Wiederaufbaus ihres Landes, für dessen Zukunft sie heute sterben. Die beste ukrainische Rache an den Russ*innen wird eine wohlhabende europäische Ukraine sein, in der Freiheit und Unabhängigkeit immer die wichtigsten Werte sein werden. Aber bis dahin wird der Hass wachsen – mit jedem neuen Tag, den der russische Eroberungskrieg dauert, ein bisschen mehr.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen