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Ein Soldat berichtet von der Front„Drei Autostunden bis zur Hölle“

Andrej Ischtschenko hat sich als Freiwilliger an die ukrainische Front gemeldet. Nun ist er zurück und hat sich mit der taz getroffen.

Tragbahren vor dem Krankenhaus in Bakhmut: viele Soldaten sind bei heftigen Kämpfen verwundet worden Foto: Libkos/ap

Odesa taz | In der irischen Kneipe abseits der Fußgängerzone von Odessa läuft Fußball. Weltmeisterschaft. Gewerkschaftsaktivist Andrej Isch­tschenko sitzt am Tisch, starrt auf den grünen Rasen im Fernseher. Er hat die Haare kurz. Zu Zeiten seiner Gewerkschaftsarbeit trug er sie lang.

Fußball interessiert ihn nicht. Er bezahlt sein Essen in bar – Kreditkarten funktionieren wegen fehlender Verbindung zum Bankserver aktuell nicht – und macht sich auf den Weg. „Kommen Sie in drei Stunden wieder“, sagt die Kellnerin. „Wir haben heute Live-Musik.“

Ischtschenko bleibt eine Weile vor der Tür im ersten Stock stehen, raucht und schaut auf den Hof hinunter, wo Menschen geschäftig gehen, Kinder spielen. „Von hier bis zur Hölle sind es genau drei Autostunden“, sagt er. „Ich war fast neun Monate nicht zu Hause, habe nicht in einem Bett geschlafen.“

Ischtschenko kommt von der Front, hat noch vor zwei Tagen gegen die russische Armee gekämpft. „Hier in Odesa ist es ja schön warm, fast immer Temperaturen über null. In Cherson und bei Donezk, wo ich gekämpft habe, waren es oft minus 10 Grad.“

Vom eigenen Panzer niedergewalzt

In Odessa lebe man noch relativ unbekümmert: „Es gibt Arbeit. In Mykolajiw, zwei Stunden von hier entfernt, kommt immer ein Schwarm bettelnder Kinder auf dich zu, wenn du aus dem Auto steigst. Und wenn man noch eine Stunde weiterfährt, nehmen auch die Probleme zu“, berichtet er. Bei Cherson habe er Menschen gesehen, die noch vor einem Jahr reich waren, einen landwirtschaftlichen Betrieb mit vielen Tieren besaßen. Jetzt erinnere nur noch ein Steinhaufen an ihren ehemals prächtigen Bau.

Verdient habe er ja nicht schlecht beim Militär, fast 3.000 Euro im Monat. In Odessa, also nicht an der Front, hätte er nur rund 1.000 Euro bekommen. „Aber es ist Dauerstress, ständig mit dem Gefühl zu leben, dass man dich töten will. Jeden Tag riskierst du dein Leben.“

Andrej Ischtschenko Foto: Bernhard Clasen

„An der Front bekommt man eine andere Einstellung zum Leben. Wenn gestern 20 Kameraden getötet worden sind, nimmt man das einfach so zur Kenntnis.“ Einmal seien aus Versehen fünf Soldaten von einem eigenen Panzer niedergewalzt worden.

Ein anderes Mal sei er in einen Hinterhalt geraten. Seine Gruppe habe sich zerstreut. Manche seien getötet worden, andere in Gefangenschaft geraten. Wieder andere, wie er, hätten sich einzeln durchgeschlagen. Und so habe er sich sieben Tage im Wald versteckt, habe den russischen Soldaten, die nur wenige Meter von ihm entfernt patrouilliert hatten, bei deren Gesprächen zugehört.

„Der Preis ist sehr hoch“

„Ich habe mit dem Helm das Regenwasser aufgefangen, um es zu trinken“, erzählt Ischtschenko. Gerettet hat ihn seine Powerbank. „Wenn man auf die eigenen Leute zugeht, kann es ja sein, dass die einen für einen Angreifer halten und schießen.“ So aber habe er per Handy seine Rückkehr ankündigen können.

Jetzt ist Ischtschenko erst einmal in Odesa, Zivilist. „Die ukrainische Armee kämpft mit nackten Händen gegen einen imperialistischen Aggressor“, sagt er. „Die Waffen sind zu 95 Prozent sowjetisch. Die Waffenlieferungen aus dem Westen sind eher PR“, so Ischtschenko. „Gleichwohl erringt die ukrainische Armee in dieser Situation Erfolge.“

„Aber der Preis ist sehr hoch: Es sind die Leben von Hunderten und Tausenden ukrainischer Soldaten. Trotz aller Erfolge – alle Probleme, die die sowjetische Armee hatte, hat auch die ukrainische Armee. Und zwar in verschärfter Form, wegen des Krieges und der sich ständig ändernden Frontlinie. In der Armee herrschen noch Regeln und Sitten aus der Sowjetzeit, es kommt mitunter zu Konflikten zwischen Soldaten und Kommandeuren, die entgegen militärischem Wissen handeln. Sie versuchen die Probleme der fehlenden Militärtechnik zu kompensieren, durch extremen und riskanten Einsatz von Menschen, gegen eine gut ausgerüstete russische Armee.“

Häufig, so Ischtschenko, stehen ukrainische Soldaten der russischen Kriegstechnik nur mit Sturmgewehren in der Hand gegenüber. „Sie verteidigen heldenhaft ihr Land gegen einen bewaffneten Aggressor.“

Der Text wurde von Andrej Isch­tschenko gegengelesen. Passagen, die ihm oder der Armee schaden könnten, wurden gestrichen. Ischtschenko hatte früher mehrfach bei taz-Reisen in die Ukraine über seine Gewerkschaftsarbeit referiert.

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12 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Wer davon keine Vorstellung und kein Wissen hat, wird weiter noch mehr Waffen fordern, weil Menschenleben offensichtlich eine untergeordnete Rolle spielen."

    Ich habe das als Kritik an Waffenlieferungen an die Ukraine gedeutet. Vielleicht hätte ich das voranstellen sollen. Tut mir leid.

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    "In Nikolajew, zwei Stunden von hier entfernt, kommt immer ein Schwarm bettelnder Kinder auf dich zu, wenn du aus dem Auto steigst."

    >>Malteser warnen vor Kriegstraumata bei Menschen aus der Ukraine



    16.12.2022 15:42



    Ukrainischer Malteser-Leiter Titko: "Viele Menschen außerhalb der Ukraine können sich unseren Alltag im Moment nur schwer vorstellen."



    Vor allem Kinder litten unter der aktuellen Situation: Nach aktuellen Zahlen der UN sind rund 1,5 Millionen Mädchen und Jungen betroffen.

  • Diese Erfahrung widerspricht der allseits üblichen Kriegspropaganda. Vergleichbar scheint das Gemetzel mit der Schlacht um Verdun oder den Stellungskriegen an der Somme zu sein. Wer davon keine Vorstellung und kein Wissen hat, wird weiter noch mehr Waffen fordern, weil Menschenleben offensichtlich eine untergeordnete Rolle spielen. Es gab Zeiten, da reisten auch deutsche Schulklassen zu den Schlachtfeldern und zu den unendlich großen Gräberfeldern in Frankreich.

    • @Rolf B.:

      Putin hat diesen Krieg 2014 begonnen und ihn am 24.02.2022 schubförmig eskaliert. Es ist an ihm, ihn zu beenden. Solange er das nicht tut, haben wir kein Recht, der Ukraine zu sagen: "Versucht's doch mal mit Sitzblockaden und Verhandlungen. Wir drücken die Daumen.". Die Frage der Waffenlieferungen ist (sehr) entfernt vergleichbar mit der der Antibiotika, deren Einsatz generell/ gesamtgesellschaftlich reduziert werden muss, das doch aber einer Einzelperson im akuten Bedarfsfall niemand ernsthaft vorenthalten würde.

      • @hel.genug:

        Wenn ich nur wüsste, was das mit meinem Kommentar zu tun hat.

  • Vielen Dank Herr Clasen für dieses veröffentlichte Gesprächsprotokoll und allgemein für die vielen guten, nüchternen Berichte dieses Jahr aus der Ukraine!

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Und deswegen müssen wir mehr Waffen und sonstige Hilfsgüter liefern!

    Hätten wir das schon in ausreichender Anzahl zwischen 2014 und 2022 gemacht, wäre es nie zu dieser Tragödie gekommen.

    Und da können sich schon mal die Leute bei SPD / Grüne (und Linke sowieso) fragen welchen Anteil sie daran haben!

  • Eine etwas andere Geschichte als die die wir uns aus vielen Artikeln und Nachrichten eingeprägt haben. Mehr Waffenlieferungen würden wohl helfen die Russen aus der Ukraine zu vertreiben.

    • @Opossum:

      Laut unserem Bundeskanzler ist Deutschland schon an der Spitze neben den USA. ;-)

      Viele europ. Staaten, und vor allem Deutschland & Frankreich begreifen leider nicht, dass dies kein lokaler Konflikt zwischen zwei Staaten um ein Stück Land ist, sondern der Expansionskrieg eines Faschisten, der, wenn man ihn gewähren lässt, ganz Europa in seine "Mir" integrieren wird.

      Da ist es halt peinlich wie zögerlich Deutschland mit seinen Waffenlieferungen ist. Groß Menschenrechte in Qatar predigen, aber dann Menschen in der Ukraine krepieren lassen, weil man Angst vor den Faschisten order irgendwelchen fiktiven atomaren Erstschlägen hat. Typisch deutsche Doppelmoral. ¯\_(ツ)_/¯

      • @Shasu:

        ...dass dies kein lokaler Konflikt zwischen zwei Staaten um ein Stück Land ist, sondern der Expansionskrieg...

        Richtig! Das haben tatsächlich viele noch nicht begriffen und jammern, dass wir hier einen hohen Preis bezahlen, für etwas, was uns nichts angehe. Wobei mit dem "hohen Preis", sind die Inflation, Energiepreise, etc. gemeint. Den hohen Preis aber zahlen die Ukrainer, mit dem Blut ...Und irgendwie schon auch für uns, denn der Krieg geht auch uns sehr wohl was an. Ich wiederhole mich dabei gerne, immer wieder mit dem gleichen Satz; Lassen wir die jetzt UE hängen, steht PUT in zwei Jahren, nach dem er die Ukraine verdaut hat, an der polnischen Grenze und provoziert. Und so weiter, und so weiter ...in Richtung Westen!

      • @Shasu:

        Stimme vollends zu.