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Ein Herz für OsteuropaDie Verwahrlosung Europas ist aufhaltbar

Tausende kämpfen auf den Straßen Osteuropas für Freiheit und Demokratie – und der Westen glotzt dazu. 2025 muss das anders werden: mehr Solidarität!

Demonstrierende protestieren in Beldgrad mit roter Farbe an den Händen, die Blut symbolisiert, gegen die serbischen Behörden Foto: Darko Vojinovic/ap/dpa

W ie immer in den Jahresrückblicken dominieren auch dieses Jahr die Grusel- und Schockergeschichten. Dabei ging das Jahr 2024 zumindest in Europa besser zu Ende als gedacht.

Steile These, ja! Und sie mag erst mal pietätlos klingen angesichts des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg, des Raketenhagels über der Ukraine, des Abschusses des aserbaidschanischen Flugzeugs und all der anderen tödlichen Weihnachtstragödien.

Doch in den letzten Wochen hätte jedem Europäer das Herz aufgehen können angesichts der Bilder von Hauptstadtplätzen des Kontinents, auf denen Hunderttausende für Europa demonstrierten, für die Vorstellung von Freiheit, Gleichberechtigung und der Möglichkeit, sich ein glückliches Leben zu erarbeiten. Und das, obwohl die Demonstrierenden sehr genau wissen, dass nicht alles in Europa Freiheit, Gleichberechtigung und die Möglichkeit, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, ist.

Sie demonstrieren gegen eine von Russland finanzierte und inspirierte Politik in Georgien und in Rumänien. Sie demonstrieren gegen die tödliche Skrupellosigkeit der Regierung in Serbien.

Eh nur Racket-Regierungen

Im Alltagsgespräch Westeuropas ist Osteuropa aber immer noch Grauzone. Taucht das Wort „Osteuropa“ auf, folgen auf dem Fuße die Wörter „Ungarn“, „Orbán“, „schlimm“. In den 1990er Jahren, zu Zeiten der blutigen Zerfallskriege Jugoslawiens, war es das Wort „Balkanisierung“, das im Westen fiel, wenn es darum ging, den schlechten Einfluss auf die Zukunft Europas zu beschreiben: Kleinstaaterei plus Racket-Regierungen, also die auf Gewalt beruhende Herrschaft von Gangs, Banden und Kriminellen in schlecht sitzenden Fake-Armani-Anzügen.

Es kam anders, der Westen zerlegt sich seit einigen Jahren ganz ohne osteuropäischen Einfluss. Auf dem hausgemachten rechten Humus Westeuropas gedeihen Populismus, Wahn und Gewalt, die von Kriminellen in gut sitzenden Armani-Anzügen orchestriert werden.

Nachdem den Serben im November buchstäblich ein Dach auf den Kopf gefallen war – das des neuen Bahnhofs in Novi Sad, das 15 Menschen tötete –, reichte es selbst nationalistischen Idolen, die ansonsten der Regimekritik unverdächtig sind, wie Tennisspieler Novak Đoković oder der wie ein Gott verehrten Basketballlegende Dejan Bodiroga. Sie unterstützen die Forderung nach schonungsloser Aufklärung. Der Verdacht: Vetternwirtschaft und Pfuscherei der Regierung hätten zu dem tödlichen Einsturz geführt, trauriger Höhepunkt eines komplett verwahrlosten Systems.

Wenn es im Iran wie letzthin durch die Frauen zu großem Protest gegen die Regierung kommt, findet sich in Europa auf Straßen und in Kommentaren große Anteilnahme, Beschäftigung, Wut und Solidarität.

Mehr Herz

Wenn in Osteuropa Menschenmassen auf der Straße für Demokratie einstehen, dann herrscht auffällige Zurückhaltung unter den im Westen lebenden Brüdern, Schwestern, Diversen. „Ja, hab ich auch in meinem Feed gesehen.“ „Toll, ja, aber warum genau stehen die da noch mal?“ „Ich kenn mich da ja nicht aus.“ So lauten die Sätze, die nicht fallen, wenn es um den Iran oder Syrien geht, sondern um Tiflis oder Belgrad, das von München nicht viel weiter entfernt ist als Kiel.

Warum ist das immer noch so? Sieht der Westen im Osten immer noch vor allem Kriminelle in Kunstlederjacken, die mit Frauen handeln und Vegetarier dissen? Ich wünsche mir für 2025, dass endlich eintritt, woran immer wieder appelliert wird: mehr Aufmerksamkeit und Herz für Osteuropa. Seine Rolle für und in Europa ist mindestens so wichtig wie die ostdeutschen AfD-Wähler*innen, die sich in ihrer Identität als Benachteiligte einzementiert haben – und das, obwohl die meisten von ihnen wenig dafür aufs Spiel gesetzt haben, in den Westen zu kommen.

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Doris Akrap
Redakteurin
Ressortleiterin | taz zwei + medien Seit 2008 Redakteurin, Autorin und Kolumnistin der taz. Publizistin, Jurorin, Moderatorin, Boardmitglied im Pen Berlin.
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6 Kommentare

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  • Die Verwahrlosung Europas sehe ich bei einem Spaziergang durch die islamisch dominierten Banlieus von Paris, durch den von der Politik aufgegebenen Görlitzer Park, durch das von Graffities beschmierte Hamburg Altona, durch trostlose Industrieruinen Westdeutschlands, durch das drogensüchtige Amsterdam, über von schwerbefaffneten Polizisten gesicherte Weihnachtsmärkte.

  • Danke für diesen Kommentar! Es ist ungemein wichtig, dass auf den blinden Fleck Osteuropa in der Berichterstattung permanent hingewiesen sind. Erst wenn dort Katastrophen stattfinden, bequemt man sich in DE sich mit der politischen Realität und historischen Einordnungen zu beschäftigen. So war das bei der Ukraine 2022 zu beobachten - 2014 ließen sich die Medien noch ins Bockhorn jagen und berichteten über Nazis in der Westukraine, was die Entwicklungen in der Ostukraine aus dem Fokus verschwinden ließ. Ein Puzzleteil für die Krim-Annexion.

    Obwohl es deutschsprachige Journalisten und Journalistinnen in der Region gibt, griff man nicht auf deren Netzwerke zurück. Das kann man so pauschal über die Arbeit der Korrespondenten sagen, die zumeist von Wien aus diesen Teil des Kontinents beackern.

    So wie die taz ein besonderes Augenmerk auf Israel hat und den 7. Oktober als Auslöser des Krieges gegen die Hamas nicht in Vergessenheit geraten lässt, so wünscht man die gleiche Tiefe bei der Berichterstattung über Osteuropa - und zwar nicht nur dann, wenn in Georgien die Zivilgesellschaft auf die Straße geht.

    Es gibt ein Netzwerk namens n-ost mit Berichterstattern in Osteuropa. Greift zu.

  • Ein frommer Wunsch.



    Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und dem folgenden Krieg gab es durchaus Solidarität. Deutschland beteiligte sich an der militärischen Beendigung des Konflikts und der politischen Aufarbeitung.



    Doch was ist aus der Region zu hören?



    Die Konflikte sind weiter real, wenn sie derzeit auch nicht mit Waffen ausgetragen werden. Enttäuschend.



    Polen wurde lange in einem Atemzug mit Ungarn genannt, dass sich von der Demokratie entfernt und Europa nur noch als Geldquelle betrachtet. Der Regierungswechsel in Polen war erfreulich, doch viel Neues ist seitdem nicht passiert, auch das enttäuscht.



    Das Vorgehen der Slowakei im Bezug auf Energie ist nur national motiviert, Alternativen scheinen in den vergangenen Kriegsjahren nicht gesucht worden zu sein.



    Das sind nur einige Beispiele, in denen Osteuropa enttäuscht hat. Eine gewisse Skepsis ist also nachvollziehbar.



    Die Vergrößerung der EU hat einen großen Binnenmarkt geschaffen. Politisch ist Europa allerdings in einer Krise. Wie dieser, demokratischen Willen vorausgesetzt, begegnet werden soll, bleibt unklar.



    Begeisterung für ein weiteres Wachstum Europas kann ich nicht empfinden.

  • Wir vertrauen halt zu wenig auf die Überzeugungskraft unserer Werte. Statt dessen wählen viel zu viele Menschen in ihrer bürgerrechtlichen europäischen Komfortzone Pseudokonservative Poprollisten und Wertevernichtungsknechte des illiberalen Wladimirs. Hirn an, Kopf hoch und lautstark die wirklich Verfolgten unterstützen.

  • Ja, leider gilt Osteuropa als "Schmuddelecke" Europas. Warum ist das immer noch so? Die Antwort aus einem Theaterstück des ungarischen Regisseurs Árpád Schilling: "Wir sind einfach nicht sexy" , heißt, Osteuropäer sehen nicht allzu exotisch oder fremd aus, sind aber nicht so schick wie die Westeuroäer und verrichten im Westen die unattraktiven Arbeiten, die die Westleuropäer nicht machen wollen. Da mögen viele nicht so genau hinschauen. Und so herrschen Ignoranz und Desinteresse Osteuropa gegenüber.



    Und leider glaube ich nicht, dass sich das 2025 ändern wird.

  • Sorry, versteh' ich nicht. Ich möchte in vielen Ländern Osteuropas (z.B. Serbien) zur Zeit wirklich nicht leben wollen, und eine solche Verwahrlosung von Politik/Gesellschaft hier hoffentlich nicht erleben müssen.