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EU-Kandidatenstatus für die UkraineDas große Warten

Kommentar von Barbara Oertel

Die Verleihung des Beitrittsstatus hat für Kiew erst einmal noch keine Konsequenzen – dafür wächst in Ländern wie Georgien der Frust.

Bundeskanzler Olaf Scholz ist für den EU-Kandidatenstatus der Ukraine Foto: Ludovic Marin/reuters

G eht doch! Bundeskanzler Olaf Scholz hat in Kiew geliefert und sich für einen EU-Kandidatenstatus der Ukraine ausgesprochen. Diese Aussage ist als politisches Symbol für die Menschen in dem von Wladimir Putins Angriffskrieg verheerten Land von großer Bedeutung. Aber deswegen gleich, wie viele Beobachter*innen, einen historischen Moment zu beschwören, scheint etwas zu dick aufgetragen.

Denn die Verleihung dieses Status, auch von der EU-Kommission am Freitag empfohlen, hat zunächst keine direkten Konsequenzen. Zudem ist bekannt, dass Kandidaten oftmals zehn Jahre oder länger in der Warteschleife hängen, bis sich die Türen in Brüssel öffnen. Das dürfte im Fall der Ukraine nicht anders sein.

Bereits in der kommenden Woche auf dem Brüsseler Gipfel wird sich zeigen, was Scholz’ Ansage und das Plädoyer der Kommission wert sind. Dann ist das einheitliche Votum aller 27 Mitglieder gefragt, aber es gibt unsichere Kantonisten – wie Portugal. Der Zwang zur Übereinstimmung sorgt immer wieder für Verdruss, wie die erpresserische, aber erfolgreiche Blockadepolitik von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zeigt.

Ein Argument der Zauderer in Bezug auf die Ukraine ist auch, dass die Staaten des Westbalkan nicht aus dem Blickfeld geraten dürfen. Da ist etwas dran – zumal eine unterschiedliche Behandlung zu Zwist, Verwerfungen und Frustration führt.

Das ist gerade in Georgien zu beobachten. Die Südkaukasusrepublik, neben der Ukraine und der Republik Moldau ebenfalls Antragstellerin auf Erteilung eines Kandidatenstatus, geht leer aus. Zu Recht, wobei diese Entscheidung auf das Konto der Regierungspartei „Georgischer Traum“ geht. Sie tritt die Grund- und Bürgerrechte mit Füßen und nimmt es auch sonst mit europäischen Werten nicht so genau. Doch vor allem für viele junge Ge­or­gie­r*in­nen ist diese Zurückweisung ein Schlag ins Gesicht. Einmal abgesehen davon, dass das Land durch die Präsenz russischer Truppen in Südossetien sowie Abchasien unmittelbar bedroht und die Angst vor einem Krieg allgegenwärtig ist.

Dieser Krieg ist in der Ukraine seit dem 24. Februar schreckliche Realität. Was die Frage aufwirft, wie es westliche Staaten, allen voran auch Deutschland, künftig mit militärischer Unterstützung halten. Da hatte Olaf Scholz leider nichts Nennenswertes im Gepäck. Wenn die Ukraine jedoch in die Lage versetzt werden soll, sich gegen den Aggressor zur Wehr zu setzen, bedarf es weiterer Waffenlieferungen und zwar schnell. Wie lautete unlängst ein zynisches Gedankenspiel von Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedjew: In zwei Jahren existiere die Ukraine auf der Landkarte vielleicht gar nicht mehr. Damit hätte sich dann auch ein EU-Beitritt erledigt.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.