ESC-Sieg von Nemo: Von unschüchterner Klarheit
Der ESC-Sieg in Malmö geht an Nemo aus der Schweiz. Vor dem Finale schloss sich Nemo Boykottaufrufen gegen Israels Teilnahme an.
Als Kind schon lernte Nemo, bald schon kein Nobody mehr – und nach dem ESC-Sieg in Schweden in der Nacht zum Sonntag erst recht nicht –, eine starke Zugewandtheit zu Musikalischem. Lernte verschiedene Instrumente, Geige und Schlagzeug, erkannte, dass Tanz eine schöne Ausdrucksform sein kann, weshalb seine Stage Moves auch beim ESC in jeder Hinsicht artistischen Qualitätsansprüchen genügten.
Nemo steht bei einem Schweizer Zweig einer Major Company der Musikindustrie unter Vertrag – und hat dort bislang alle Erwartungen erfüllt, auch vor dem ESC. Dieses Künstlerwesen rappt, singt auf Schwyzerdütsch, ist von freundlichem Wesen, so sagen es Popmanager im Hintergrund, doch von unschüchterner Klarheit. Attestiert werden kann eine vokale Kunst, die an die Freddie Mercurys heranreicht – Falsett wie Tiefstes bringt Nemo zusammen. In höchstpersönlicher Hinsicht ist über Nemo nur das bekannt, was bekannt werden durfte. In Online-Lexikon-Einträgen ist zu lesen, dass Nemo seit 2021 in Berlin lebt – dem Eldorado für europäische Nonbinary-Wesen – und mit einer Frau liiert ist: Nemo ist, mit anderen Worten, womöglich ein Avantgardewesen neuer Geschlechtersortierungsverständnisse.
Der perfekte Akkord gegen Rechtspopulismus
Das ESC-Siegeslied thematisiert den Weg – und nun auch: einen gewissen künstlerischen Triumph – einer nichtbinär sich verstehenden Person. „The Code“, der Song mit der markanten Hookline, meint, dass Rätsel der Geschlechterbinarität geknackt zu haben – um nun frei und frisch leben zu können. Nemo aus dem Kinofilm war im Übrigen ein Clownfisch, klein und schutzbedürftig: Diese Fischart vermag sich im Laufe ihres Lebens vom männlichen zu einem weiblichen Wesen zu verwandeln.
Nemo ist die dritte queer zu lesende Person, die den ESC-Jackpot knackt: 1998 schaffte das Dana International, die Transfrau aus Israel, 2014 dann Conchita Wurst für Österreich, die Dragqueen mit „Rise Like A Phoenix“. Nemo hat nicht das internationale Televoting gewonnen – doch dass der Sieg verdient ist, daran gab es nach einer glücklichen Performance keinen Zweifel. Zumal: Eurovisionsköniginnen* hat es schon, die eher kühl ihren Sieg nahmen – Nemo zählt nicht dazu. Dieses eidgenössische Wesen ist der perfekte Akkord gegen den Rechtspopulismus in der Schweiz.
In Malmö freute sich Nemo wie ein Kind nach überwältigender Geburtstagsparty. So sehr, dass auf der Bühne sogar die Siegestrophäe in die Brüche ging. Ein Haar in der Suppe könnte bleiben: dass Nemo sich im Vorfeld des ESC sich nicht den Boykottwünschen wider Israel und dessen Sängerin Eden Golan widersetzte, vielmehr eine Künstlerliste mit unterzeichnete, die Waffenstillstand der Kriegshandlungen gegen die Hamas im Gazastreifen forderte. Mithin: eine nichtbinäre Person, die sich den Exkludierungsfantasien gegen eine künstlerische Kollegin und ihr Land in Malmö und in der Zeit zuvor nicht entgegenstellte, kurios.
Flagge zeigen
Klarstellung brauchte dieser Vorfall: Bei der Flaggenparade beim Grand Final am 11. Mai nahm Nemo zwar mit der schweizerischen Fahne teil. Bei der Generalprobe am Samstagnachmittag für diese olympisch anmutenden Geste, wollte Nemo jedoch, wie auch die griechische und die irische Sängerin, nicht teilhaben. Die Presseabteilung des schweizerischen Fernsehens teilte dazu mit: „Der Druck, der auf Nemo lastete, war in diesem Moment enorm, und Nemo fühlte sich emotional nicht in der Lage daran teilzunehmen.“
ESC-Kenner:innen zufolge aber ist diesen Künstlerinnen* signalisiert worden, dass ein Verzicht auf die Parade zum Auftakt der Show Folgen für die Teilhabe der betreffenden Sender im kommenden Jahr haben könnte.
Nemo, so oder so, ist in der schweizerischen Heimat überwiegend heldisch gefeiert worden, begleitet von Äußerungen aus rechtspopulistischer Ecke. Nemo – das ist das Wesen einer Eidgenossenschaft, die auf Diversität halten will.
Anm. der Redaktion: In der ursprünglichen Version dieses Textes hieß es, Nemo habe mit Bezug auf Israel und Eden Golan Exkludierungsfantasien. Tatsächlich hat sich Nemo denn Exkludierungsfantasien nicht entgegengestellt. Wir haben den Text an der Stelle daher präzisiert.
Auch die Absätze zu Nemos Teilnahme an der Flaggenparade wurden am 15.5.24 nachträglich hinzugefügt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste