Durch Polizeischüsse getöteter Afghane: Demonstrant*innen wollen Aufklärung
In Stade wurde des von einem Polizisten erschossenen Geflüchteten Aman Alizada gedacht. Die Demonstrant*innen fordern Aufklärung.
Am Samstag haben etwa 200 Menschen in Stade demonstriert, um an den vor zwei Monaten getöteten Geflüchteten Aman Alizada zu erinnern und die Aufklärung seines Todes zu fordern. Der 19-jährige Afghane war von einem Polizisten erschossen worden (taz berichtete). Der Flüchtlingsrat Niedersachsen und weitere Gruppen hatten zu der Demonstration aufgerufen.
Was genau am 17. August in der Unterkunft für Geflüchtete in Stade-Bützfleth passierte, wird noch ermittelt. Die Cuxhavener Polizei hat den Fall übernommen, damit Polizist*innen nicht gegen einen direkten Kollegen ermitteln.
Laut Staatsanwaltschaft Stade sei die Polizei zu der Unterkunft gerufen worden, weil eine Person Angst vor ihrem Mitbewohner gehabt habe. Der Mitbewohner war Aman Alizada. Weil er der Polizei bereits bekannt gewesen sei, sei sie mit zwei Streifenwagen angerückt. Alizada habe zunächst nicht auf Ansprache reagiert, beim Betreten der Wohnung soll er mit einer Hantelstange auf die Polizist*innen losgegangen sein. Der Einsatz von Pfefferspray sei wirkungslos gewesen, sodass einer der Beamten „zur Unterbindung des Angriffs auf den Angreifer schoss“.
Die einzigen Zeug*innen sind Polizist*innen
Dörthe Hinz vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat sagte in ihrem Redebeitrag am Samstag, Alizada sei nach ihren Erkenntnissen durch mehrere Schüsse in den Oberkörper getötet worden. Und die einzigen Zeug*innen seien die vier Polizist*innen, die mit ihm allein in der Wohnung waren.
Es sei „alarmierend“, dass die Polizei nicht in der Lage sei, eine solche Konfliktsituation anders zu regeln, so Hinz. Alizada habe sich in einer psychischen Krisensituation befunden. Er sei zuvor mehrere Wochen in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen. „Er brauchte eigentlich dringend Hilfe“, so Hinz. Der Polizei sollen Alizadas psychische Probleme durch einen vorherigen Einsatz bekannt gewesen sein. Hätten die Beamt*innen deshalb nicht anders auf ihn reagieren müssen?
Sechs bis 13 Menschen starben zwischen 2009 und 2017 pro Jahr durch Schüsse von Polizist*innen.
Eine psychische Erkrankung hatte etwa die Hälfte von ihnen. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen, weil der Gesundheitszustand nicht bei allen Opfern aufgeklärt werden konnte.
Es gehe nicht um eine Vorverurteilung des Polizisten, sagte Barbara Erhardt-Gessenharter von der Bürgerinitiative Menschenwürde. „Genauso wenig wollen wir eine Vorwegfreisprechung.“ Dass der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab, mittlerweile wieder im Dienst sei, sei aber kein gutes Omen für eine ergebnisoffene Untersuchung.
Sowohl Hinz als auch Erhardt-Gessenharter kritisierten, dass Alizada in einigen Zeitungsartikeln als gewaltbereiter junger Mann dargestellt worden sei. Vorbestraft war Alizada laut Staatsanwaltschaft nicht. Er sei einmal auffällig geworden, weil er mit einem Messer bewaffnet durch Stade gelaufen sei und gegen einen LKW getreten habe.
Alizada flüchtete als 15-Jähriger alleine nach Deutschland. Er gehörte der Minderheit der Hazara an, suchte in Deutschland Schutz vor Verfolgung. Die ersten zwei Jahre in Stade lebte er mit etwa 70 anderen Minderjährigen in einer Turnhalle. Das Leben dort verlange den Jugendlichen eine Menge ab, sagte eine ehemalige Betreuerin am Samstag.
Sein Asylantrag wurde abgelehnt
Alizada sei dennoch ehrgeizig gewesen, habe bis nachts Hausaufgaben gemacht. Er schaffte den Hauptschulabschluss und begann eine Tischlerlehre. Die musste er wegen seiner Erkrankung jedoch abbrechen. Die Betreuerin und auch Freunde von Alizada bezeichneten ihn als höflichen, hilfsbereiten, jungen Mann. „Aman funktionierte in unserem System und darauf kam es an“, sagte die Betreuerin.
Sein Asylantrag wurde kurz vor seinem 18. Geburtstag trotzdem abgelehnt, erzählte Hinz. Die fortwährende Angst, nicht in Deutschland bleiben zu können, setze besonders junge Geflüchtete enorm unter Druck und mache krank.
Dörthe Hinz, Flüchtlingsrat
Und als Aman Alizada nicht mehr funktionierte und es ihm nicht gut ging? Hinz sagte, ihre Gespräche vor Ort offenbaren weitere Defizite in der psychosozialen Versorgung junger Geflüchteter. So habe Alizada nach seiner Entlassung aus der stationären Behandlung keine Nachversorgung erhalten und sei auf sich allein gestellt gewesen. Kurz nach seinem 18. Geburtstag fiel er offenbar auch aus der Jugendhilfe.
Sowohl Dörthe Hinz als auch Barbara Erhardt-Gessenharter kündigten an, den Problemen weiter nachzugehen. Auf Antrag der Grünen soll die niedersächsische Landesregierung den Innenausschuss demnächst über die Regelungen zu Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit psychisch Erkrankten sowie Vorgaben zu Schulungen in dem Bereich unterrichten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen