Drastischer Zuwachs an Sportwetten: Deutschlands Sonderweg
Sportwetten boomen in Deutschland – dank fast grenzenloser Liberalisierung. Gesellschaftliche Schäden sind immens. Das muss sich ändern.
Wer derzeit Fußball schaut, kann Sportwettenwerbung kaum aus dem Weg gehen. Gruselig omnipräsent ist sie geworden auf Banden im Stadion, auf Trikots oder in Werbespots. Die Sportwettenanbieter sponsern fast alle Männer-Bundesligisten, sie sponsern die Nationalteams der Männer und Frauen, die Deutsche Fußball-Liga (DFL) und werben in der „Sportschau“. Längst ist das Zocken so eng mit dem Kicken verknüpft wie die uralte Autos-und-Bier-Leier.
Schon als viele der Konzerne noch illegale Angebote hatten, störte das den FC Bayern, den DFB oder auch den netten SC Freiburg nicht. Seit Juli 2021 ist nun alles noch viel leichter: Seitdem ist der neue Glücksspielstaatsvertrag in Kraft, der Online-Glücksspiel unter Auflagen legalisiert und Sportwetten bundesweit erlaubt. Schon bei der Einführung kritisierten Expert:innen die zu lasche Kontrolle, die einhergehende Amnestie für illegale Anbieter und zu lasche Auflagen.
Nun hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen einen Bericht vorgelegt, der den Verdacht bestätigt: Die Legalisierung hat nichts eingehegt, sondern dem Profit mit der Abzocke Tür und Tor geöffnet. Für den Glücksspielmarkt stiegen die Umsätze laut Bericht 2021 um 14,6 Prozent; Sportwetten explodierten um heftige 409,6 Prozent auf einen Umsatz von 18,3 Milliarden Euro. Der Bericht führt das vor allem auf den geänderten Glücksspielstaatsvertrag zurück.
Mehr Regulierung ist überfällig
Mehr Regulierung ist überfällig auf dem deutschen Markt, der fatalerweise den gegenteiligen Weg vieler anderer europäischer Länder gegangen ist. Anderswo verschärft man, Deutschland liberalisiert. Seit 2018 schon hat Italien jegliche Glücksspielwerbung auch im Sport verboten. Spanien zog nach und verbietet ebenfalls Sponsoring von Glücksspielanbietern für Sportteams; TV-Werbung ist stark reguliert.
Und im April einigten sich die Klubs der englischen Premier League, Wettanbieter ab 2026 zumindest auf der Vorderseite ihrer Trikots nicht mehr zu zeigen. In Deutschland ließ man den Markt erst lange in einer rechtlichen Grauzone und hat ihn danach weit geöffnet, inklusive aggressiver Vermarktung.
Bei aller Schrille der Stimmen wäre es zu einfach, die Umsatzsteigerung allein auf Werbung und die Neuregelung zurückzuführen. Sportwetten boomten in Deutschland schon vorher. Grund ist zum Beispiel der Wandel des Wettmarkts selbst von piefigen Wettlokalen hin ins Internet, wo die Hemmschwelle geringer ist, wo Geld mit einem Klick verschwindet und die Angebote schwerer kontrollierbar sind. Und die stetig wachsende Zahl der Anbieter, die gerade bei jungem und prekärem männlichem Publikum einen Markt finden.
Gerade im Profisport sind es Menschen mit viel Zeit und Geld
Auch die zunehmende Aufmerksamkeit für Sport spielt eine Rolle – Wettanbieter wuchsen symbiotisch mit dem zu jeder Uhrzeit laufenden Spitzensport. Und das Leben der Aktiven: Gerade im Profisport sind das Menschen mit viel freier Zeit und häufig zu viel Geld, die den Kick des Spieltags zu reproduzieren versuchen und sich bei Sportwetten für kompetent halten. Laut Fan-Organisation „Unsere Kurve“ weisen zehn Prozent der Profi- und Breitenfußballer:innen problematisches Zockverhalten auf. Obwohl Experimente nachgewiesen haben, dass etwa Sportreporter:innen nicht erfolgreicher tippen als an Fußball desinteressierte Hausfrauen. Eine ganze Kultur glorifiziert das Zocken.
Ein Werbeverbot wäre ein wichtiger erster Schritt, ein Allheilmittel ist es nicht. Der Markt muss viel ambitionierter reguliert werden. Plumpe Verbote bringen nicht viel, durch sie entstand in Deutschland ein unregulierter Online-Schwarzmarkt. Und die Finanzierung von Sport an sich gehört endlich geändert. In einem System, wo mehr Geld bessere Spieler:innen und damit mehr Erfolg bringt und alle Klubs nach oben streben, sind sie bereit, Geld aus jeder erdenklichen Quelle anzunehmen. Längst sind das Summen, die nur unethische Konzerne bereitstellen können.
Gesellschaftliche Schäden finanzieren dieses Spiel und die Villen seiner Helden, in dem Fall zahlen Süchtige und Prekäre. Solange wir keine andere Wettbewerbsstruktur und eine gesellschaftlich gesteuerte Finanzierung statt Profitmaximierung schaffen, ist die Ausbeutung nicht zu besiegen. Immerhin, mittlerweile gibt es auch hierzulande eine Lobby gegen Sportwettenwerbung: Durch Fan-Organisationen wie „Unsere Kurve“ oder das neu gegründete Bündnis gegen Sportwettenwerbung. Um zumindest der unheiligen Symbiose ein Ende zu setzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann