Dokumentarfilm „No Other Land“: Ein anderes Land
Der Dokumentarfilm „No Other Land“ zeigt den Kampf von Beduinen gegen einen Truppenübungsplatz der israelischen Armee. Ihm sollen ihre Häuser weichen.
Ein junger Mann fährt mit dem Auto durch die Nacht. Der junge Mann hört arabische Sprachnachrichten ab, die sich auf seinem Telefon angesammelt haben. „Leute, die Armee umzingelt das Dorf.“ – „Basel, wo bist du? Komm schnell heim!“
Im weiteren Verlauf von „No Other Land“ werden wir noch oft das Gesicht von Basel Adra zu sehen bekommen. Er ist der Protagonist dieses Dokumentarfilms, aber weitaus mehr als das. Er ist zugleich aktivistischer Filmemacher, der mit seiner Videokamera dokumentiert, wie Bulldozer unter dem Schutz der israelischen Verteidigungskräfte die Häuser von Nachbarn abreißen. Last but not least ist er einer von vier Regisseuren dieses Films, in dem er selbst die Hauptrolle spielt.
Häufig gesellt sich das Gesicht seines jüdischen Co-Regisseurs Yuval Abraham dazu. Auch er ist Aktivist, der für israelische Medien dokumentiert, was sich in Masafer Yatta abspielt.
Der Film ist für die Oscars nominiert, hat in den USA aber keinen Vertrieb
„No Other Land“. Regie: Basel Adra, Yuval Abraham, Rachel Szor, Hamdan Ballal. Norwegen/Palästina 2024, 93 Min.
„No Other Land“ gewann den Dokumentarfilmpreis der Berlinale 2024. Der Auftritt von Basel Adra und Yuval Abraham wurde von den einen bejubelt, von anderen harsch kritisiert, weil Abraham in seiner Dankesrede von „Apartheid“ gesprochen hatte und Adra behauptete, in Gaza würden Menschen „abgeschlachtet“. Der gegen den Film vorgebrachte Vorwurf der Einseitigkeit war noch harmlos, Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner kritisierte die Reden der Regisseure als „untragbare Relativierung“ und schrieb, Antisemitismus habe in Berlin keinen Platz.
Nun läuft der Film in deutschen Kinos, wurde inzwischen für die Oscars nominiert, hat in den USA dagegen aber immer noch keinen Vertrieb – so viel zum „McCarthyismus“, den einige amerikanische Expats in Deutschland zu erkennen meinen.
Ist „No Other Land“ einseitig? Ja, aber das liegt in der Natur der Sache, denn der Film blickt aus der Perspektive der Bewohner von Masafer Yatta auf einen Konflikt um die Ortschaften, in denen sie leben, die sie nun aber verlassen sollen.
Seit über zwanzig Jahren werden Häuser zwangsgeräumt
Masafer Yatta wird eine Ansammlung kleiner Dörfer südlich von Hebron im während des Sechstagekriegs von Israel besetzten Westjordanland genannt. Um die tausend Beduinen wohnen in diesem Gebiet, das 1977 als Truppenübungsgelände für das israelische Militär ausgewiesen wurde. Seit über zwanzig Jahren werden daher Häuser zwangsgeräumt und mit Bulldozern zerstört. Weil sich die Bewohner oft weigern, ihre Häuser zu verlassen, demolieren die Maschinen unter dem Schutz der Armee die Häuser mitsamt dem Mobiliar.
„Sie zerstören uns langsam, jede Woche ein Haus“, heißt es im Film einmal. In der Tat ist es ein zäher Kampf. Ein Bulldozer zerstört ein Haus, die Leute bauen es wieder auf. Um die Gegend wirklich unbewohnbar zu machen, zerstören die Abgesandten der Regierung schließlich Wasserleitungen und versiegeln eine Wasserquelle mit Beton. Als sich einer der Männer mit Händen und Füßen dagegen wehrt, dass Soldaten einen Stromgenerator konfiszieren, schießt ein Soldat auf ihn. Er wird sich nie wieder davon erholen.
Die Arbeiten an „No Other Land“ begannen im Jahr 2018 und endeten im Oktober 2023. Während der Dreharbeiten verkündete das Oberste Gericht Israels nach einem 22 Jahre dauernden Prozess sein Urteil. Da es in der Region früher keine dauerhaften Siedlungen gegeben habe und die meisten Bewohner ohnehin anderswo gemeldet seien, dürfe in dieser Gegend nicht gebaut werden, die Häuser dürften abgerissen werden.
Das Problem, das sich in Masafer Yatta exemplarisch zeigt, ist ein politisches
Die Bewohner legten Dokumente vor, die belegen sollten, dass ihre Vorfahren bereits in den 1830ern in diese Gegend gezogen waren. In der Tat gab es damals eine Einwanderungswelle aus Ägypten in die Levante, die damals zum Osmanischen Reich gehörte. Auch viele nichtjüdische Bewohner Palästinas sind also erst in jüngerer Zeit eingewandert.
Diese und andere Dokumente überzeugten das Gericht nicht. In der Filmbesprechung der FAZ war dazu zu lesen, es gebe in diesem Konflikt „keine neutrale Instanz, die schlichtet, sondern es gelten die Regeln, die aus der Besatzung entstanden sind“. Diesen Schluss kann man durchaus bezweifeln. Das Oberste Gericht Israels ist, auch wenn es zur Legalisierung der Besatzung beigetragen hat, eine vergleichweise neutrale Instanz, die durch eine Justizreform der gegenwärtigen ultrarechten israelischen Regierung auf Linie gebracht werden sollte, was wiederum die massive Protestwelle im Jahr 2023 ausgelöst hat.
Das Gericht hat immer wieder zugunsten von palästinensischen Klägern entschieden, etwa im Fall der Bewohner des Dorfs Bil’in, die wegen des Baus des Zauns, der entlang der Grünen Linie von Israel errichtet wurde, von ihren Olivenhainen abgeschnitten worden waren. Die Grenzanlage wurde nach dem Gerichtsurteil nach Westen verschoben.
Das Problem, das sich in Masafer Yatta exemplarisch zeigt, ist kein juristisches, sondern ein politisches. Es ist Resultat des Siegeszugs der messianischen jüdischen Siedlerbewegung.
„No Other Land“ ist kein propagandistischer Film
Ist „No Other Land“ mit seinen aufwühlenden Bildern ein propagandistischer Film? Nein. Er ist auch nicht antijüdisch oder gar antisemitisch. Er zeigt, was geschieht, und damit auch die Konflikte zwischen dem jüdischen Filmemacher Yuval und den Freunden und Familienmitgliedern seines Freundes Basel. Einmal wird ihm gesagt: „Das könnte einer deiner Brüder oder Freunde gewesen sein, der ein Haus zerstört hat. Wie soll das weitergehen?“
Es geht weiter, weil die Beduinen vor zwanzig Jahren beschlossen haben, auch mit Juden zu arbeiten, wenn die bereit sind, ihnen zu helfen, und weil es nicht darum geht, dass sie Juden sind, sondern darum, wie sich ihr Staat verhält. Um dies deutlich zu machen, ist in den englischen Untertiteln immer von „Israelis“ zu lesen, wenn die Leute „Juden“ sagen.
Ariel Scharon verfolgte eine Politik der Besiedlung des Westjordanlands
Wenn man „No Other Land“ etwas vorwerfen kann, dann ist es die mangelnde politische Analyse. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Erst im Abspann erklären die Filmemacher*innen, ein geheimes staatliches Dokument zeige, dass das Übungsgelände geschaffen wurde, um arabische Dörfer an der Expansion zu hindern.
Das Dokument, auf das hier verwiesen wird, ist nicht geheim. Es ist das Protokoll einer Sitzung des Ministerialausschusses für Siedlungsbelange im Jahr 1981, in deren Verlauf Ariel Scharon sagte, die Ausweisung des Gebiets von Masafer Yatta diene dem oben genannten Zweck. Um die Gegend weiterhin unter der eigenen Kontrolle zu halten, werde man dem Truppenübungsplatz weitere Flächen zuschlagen. Scharon war seit 1977 Vorsitzender des Ausschusses und Landwirtschaftsminister der ersten vom Likud geführten Regierung. Er verfolgte eine Politik der Besiedlung des Westjordanlands, die einen zukünftigen, territorial geschlossenen palästinensischen Staat verhindern sollte. Scharon gilt zu Recht als „Vater der Siedlungen“.
In ihrer im Jahr 2004 erschienenen Studie „Die Herren des Landes“ beschrieben die Historikerin Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar die fortwährende Unterstützung, die das Siedlungsprojekt von allen israelischen Regierungen genossen hat, die den Siedlungen eine Infrastruktur aus Straßen und Energieversorgung bereitgestellt haben. Sie analysierten die politischen Strategien, mit denen die Siedlerbewegung Politik und Öffentlichkeit manipuliert hat, und verwiesen auf die verheerenden Folgen, die der laxe Umgang mit den ständigen Gesetzesbrüchen der Siedler für das Rechtsbewusstsein der gesamten israelischen Gesellschaft hat.
Der frühere Verteidigungsminister Moshe Ya’alon spricht von „ethnischen Säuberungen“ in Gaza
Wie recht Eldar und Zertal mit ihrer Warnung hatten, dass der Messianismus der Siedler die Zukunft Israels gefährden könnte, zeigt sich heute. Im Schatten des Gazakriegs haben gewalttätige Übergriffe von Siedlern auf Palästinenser stark zugenommen. Laut der israelischen Tageszeitung Ha’aretz herrscht Streit zwischen dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet und den israelischen Polizeibehörden im Westjordanland, weil diese sich nicht mehr kooperativ bei der Überwachung und Verhaftung von jüdischen Terrorverdächtigen zeigten.
In Gestalt von Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich sitzen nun zwei der radikalsten Vertreter der Siedlerbewegung am Kabinettstisch. Smotrich sagte im November laut Ha’aretz, während der ersten Amtszeit Donald Trumps sei man nur einen Schritt davon entfernt gewesen, die Souveränität über die Siedlungen in Judäa und Samaria, also im Westjordanland, auszuüben. Jetzt sei es an der Zeit, dies zu tun. Die „neuen Nazis“ müssten einen Preis bezahlen, indem ihnen Land weggenommen werde. Das gelte auch für Gaza.
Wenig später erregte eine Aussage des früheren Verteidigungsministers und Armeechefs Moshe „Bogi“ Ya’alon das Land. Ya’alon ist kein Linker, er war Mitglied des rechten Likud und galt als Falke. Er sprach von „ethnischen Säuberungen“ in Gaza. Zivilisten würden aus ihren Häusern vertrieben und ihre Häuser zerstört. Dafür machte er nicht die Streitkräfte verantwortlich, sondern die Regierung, insbesondere die Minister Ben-Gvir und Smotrich.
„No Other Land“ endet mit einer von Basel Adra gefilmten Szene vom 13. Oktober 2023. Ein mit einem Gewehr bewaffneter Siedler schießt einem Cousin Adras in den Bauch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos