Antiziganismus in Hannovers Verwaltung: Rassismus von Amts wegen

Eine zwei Jahre alte Studie macht plötzlich Furore. Sie weist Hannover antiziganistische Strukturen nach. Dabei ist die Stadt nur ein Beispiel.

Im Bildervordergrund steht ein Stempelkarussell wie es in vielen Behörden üblich ist, im Hintergrund sind unscharf Mitarbeiter, die vor einem Computer sitzen erkennbar.

Abgestempelt: Der Umgang von Behörden mit Sinti und Roma zeigt fatale historische Kontinuitäten Foto: Sebastian Gollnow/dpa

HANNOVER taz | So offen reden die wahrscheinlich so schnell nicht wieder: 71 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – zum Teil leitende Angestellte – aus den Bereichen Unterbringung, Sozialarbeit, Jobcenter und Politik in Hannover haben für eine Studie ausführliche Interviews gegeben.

Es ging dabei um den Umgang mit Roma-Familien, vor allem solchen, die aus Osteuropa (vorwiegend Rumänien und Bulgarien) zugewandert waren. Und weil diesen Mitarbeitern eine umfangreiche Anonymisierung zugesagt wurde, wurden sie dabei sehr deutlich.

Die Studie „Mechanismen des institutionellen Antiziganismus: Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt“ von Tobias Neuburger und Christian Hinrichs beschreibt präzise, wie diskriminierend die Verwaltungspraxis in allen möglichen Feldern ist.

Das betrifft zunächst einmal die Unterbringung: Roma-Familien werden gezielt in Unterkünften untergebracht, die abgelegen in Gewerbegebieten, an Autobahnen oder Müllverbrennungsanlagen liegen und baulich in schlechtem Zustand sind.

Grundsätzlich unter Betrugsverdacht

Den Kindern wird damit der Schul- und Kitabesuch schwer gemacht, zumal die Familien auch regelmäßig verlegt werden. Eine Betreuung durch Sozialarbeiter gibt es kaum, dafür Sicherheitsdienste, die verhindern, dass Besuch kommt.

Im Jobcenter stehen die Betroffenen grundsätzlich erst einmal unter Betrugsverdacht. Anträge werden gar nicht erst rausgegeben, gehen verloren oder werden nur zögerlich bearbeitet, lautet ein weiterer Vorwurf.

Bekannt ist das eigentlich schon seit zwei Jahren. Im März 2021 wurde der Forschungsbericht für die „Unabhängige Kommission Antiziganismus“, gefördert vom Bundesinnenministerium, veröffentlicht – ohne große öffentliche Resonanz zu erzielen.

Nun allerdings hat die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) auffliegen lassen, um welche mühselig verschleierte „westdeutsche Großstadt“ es geht – wohl auch, weil die Redakteure die eigene Berichterstattung in den zitierten Beispielen wiedererkannten.

In der Ausgrenzung verschränken sich tief verwurzelte Vorurteile, Verwaltungskalkül und problematische Weichenstellungen auf EU-Ebene

In Hannover ist der Aufruhr nun groß. Linke, Grüne, sogar die CDU fordern Aufklärung und Berichterstattung in den entsprechenden Gremien.

Die Stadt reagierte selbstkritisch: Man erkenne an, dass es diese antiziganistischen Verhaltensmuster innerhalb der Stadtverwaltung gebe und das Problembewusstsein unterschiedlich ausgeprägt sei, erklärte eine Sprecherin.

„Das ist für eine Stadt, die für sich als Anspruch und Leitmotiv ihres Handelns festgelegt hat, ein offenes, auf Wertschätzung, Vielfalt und gleichberechtigter Teilhabe basierendes Miteinander zu leben, inakzeptabel“, heißt es in der Erklärung der Stadt.

Weniger souverän und einsichtig reagierte dagegen das Jobcenter der Region Hannover, als es von der HAZ mit den Vorwürfen konfrontiert wurde: So etwas könne es dort nicht geben und man sei sich auch nicht sicher, ob nicht eine andere Behörde gemeint sei, hieß es da sinngemäß.

Kein lokales Problem

Der Hang, mit dem Finger auf andere zu zeigen, verschleiert aber auch, was die Autoren der Studie immer wieder betont haben: Das Ganze ist keineswegs ein hannöversches Problem. Viel mehr verschränken sich in der Ausgrenzungspolitik gegen die Roma tief verwurzelte Vorurteile, kaltes Verwaltungskalkül und problematische Weichenstellungen auf EU-Ebene.

Denn die Kommunen liefern sich einen Wettkampf um die effektivsten Abschreckungstaktiken, weil sie die grundsätzliche Schizophrenie der EU-Osterweiterung auffangen müssen. Rumänen und Bulgaren sind willkommen, solange sie sich als prekär beschäftigte Arbeitssklaven verdingen – aber nicht, wenn sie Sozialleistungen in Anspruch nehmen.

Wenn sie beim Amt Arbeitsverträge oder Kündigungen vorlegen, unterstellt man ihnen, die seien gefälscht. Die menschenunwürdige Unterbringung in Notunterkünften wird auch damit gerechtfertigt, dass sonst zu viele nachkämen.

Das kann nicht allein auf kommunaler Ebene diskutiert und gelöst werden, sagt auch die Stadt Hannover. Die hatte tatsächlich schon vor dieser Debatte angefangen, einige Änderungen vorzunehmen. Den Fachbereich „Unterbringung“ gibt es in seiner früheren Form nicht mehr: Vor allem, weil man eine bessere und stärkere Verzahnung mit der Sozialarbeit im neuen Bereich „soziale Teilhabe“ schaffen wollte.

Hinter vorgehaltener Hand hatten sich viele Sozialarbeiter, auch aus der freien Obdachlosenhilfe, über den rabiaten Umgang mit Hilfesuchenden beklagt. Auch einige der besonders schlimmen Unterkünfte hat die Stadt mittlerweile abgestoßen. Eine Belegung nach ethnischen Kriterien soll es auch nicht geben.

Antiziganismus Thema auf Landesebene

Unabhängig von der aktuellen Debatte um Hannover hatten auch die niedersächsischen Grünen schon länger zu einer offenen Debatte zum Thema „Antiziganismus bekämpfen“ in den Landtag eingeladen. Sie fand am Donnerstag, 5. Oktober, statt.

Unter der Leitung von Djenabou Diallo-Hartmann (Grüne) diskutierten der Antiziganismusbeauftragte des Bundes Mehmet Daimagüler mit Landtagsabgeordneten und Verbänden darüber, wie die Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus auf Landesebene umgesetzt werden können.

Die Landespolitik bietet dafür auch immer wieder Anlass genug: So tauchen zum Beispiel die Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Schulabsentismus gegen eine Roma-Familie in der Statistik zur „Clankriminalität“ wieder auf.

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