Die jüdische Geschichte der Ukraine: Wir müssen die Ukraine verteidigen
Der israelische Historiker mit galizischen Wurzeln Omer Bartov über Krieg und Frieden und die Fragen: Wem gehört das Land? Und wer darf dort wohnen?
taz am wochenende: Herr Bartov, Ihre Vorfahren kamen aus dem Teil Europas, der heute die Ukraine ist. Über sie und den Ort, wo Ihre familiäre Herkunft ist, haben Sie ein Buch geschrieben. Wie geht es Ihnen, wenn Sie jetzt diese Bilder vom Krieg sehen?
Omer Bartov: Die letzten paar Monate waren für uns alle schwer. Ich gucke immer die Fernsehnachrichten, und es ist sehr schwer, etwas anderes zu tun. Viele Städte, die man jetzt sieht, bombardiert und völlig ruiniert, kenne ich ganz gut. Ich habe das Gefühl, dass die Geschichte zurückkommt. Das ist eine große Katastrophe. Man hat keine Ahnung, was jetzt passieren wird, aber es ist sehr, sehr traurig.
Sie selbst sind in Israel geboren.
Ja. Aber meine Mutter kam aus Buczacz, dieser Kleinstadt in Galizien …
… das mal zum Habsburgerreich gehörte, später zur Ukraine, dann zu Polen und schließlich als Teil der Ukraine zur Sowjetunion.
Eine wirklich komplizierte Geschichte, ja. Mein Vater jedenfalls ist in Israel geboren. Seine Eltern sind aber auch aus Polen, aus Westpolen, gekommen.
Warum haben Sie die Geschichte dieses Ortes aufschreiben wollen?
Der Mann
Omer Bartov wurde 1954 in Israel geboren. Er lebt heute in den USA und ist Professor für europäische Geschichte und deutsche Studien an der Brown University in Providence. Er zählt zu den weltweit führenden Holocaust-Forschern.
Die Bücher
Im Sommer erscheint von ihm zunächst nur auf Englisch das Buch „Tales from the Borderlands“ – Erzählungen aus den Grenzländern (Yale UP). Auf Deutsch ist von ihm unter anderem 2021 erschienen: „Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz“ (Jüdischer Verlag).
Dieses Gespräch fußt auf einem taz Talk mit Omer Bartov. Für die schriftliche Fassung wurden Passagen aktualisiert und präzisiert.
Mitte der neunziger Jahre habe ich mich gefragt, wie das möglich ist, dass in den Kleinstädten wie Buczacz während der deutschen Okkupation Nachbarn einander töteten: Juden, Polen, Ukrainer. Diese drei ethnischen Gruppen und Religionen – also die Ruthenen/die Ukrainer waren griechisch-katholisch, die Polen römisch-katholisch und die Juden – hatten 400 Jahre beieinander gelebt, weitgehend friedlich. Die Wahrheit ist: Es gab immer Spannungen zwischen diesen Gruppen. Doch für lange Zeit hatten sie einen Lebensmodus entwickelt, der zwar nicht pluralistisch war, aber die Leute kannten einander. Sie sprachen die verschiedenen Sprachen nicht perfekt – etwa wie mein Deutsch –, aber sie waren abhängig voneinander.
Galizische Kultur – eine Mischung schlechthin?
Die Mehrheit dieser Leute konnte sich nichts anderes vorstellen. Es war das, was sie kannten. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es dort fast keinen Krieg und keine Gewalt. Ende des 19. Jahrhunderts wuchs der ukrainische Nationalismus, was sich schließlich im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust zeigte. Die Frage war für Polen und Ukrainer: Wem gehört das Land? Ist es polnisch oder ruthenisch, also ukrainisch? Für beide waren die Juden fremd. Die Juden hatten keinen Anteil am neuen nationalistischen Denken. Das ist auch ein Grund, wieso der Zionismus geboren wurde.
Inwiefern?
Das fantasierte Land des Zionismus lag nicht in Galizien, sondern in Palästina. Dann kam der Erste Weltkrieg. Die sehr starke Gewalt hat im Ersten Weltkrieg angefangen. Nach diesem Krieg war Polen wieder da und wollte dieses Gebiet, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Ukrainer waren. Viele Zivilisten, auch Juden, wurden dort ermordet. 1929 ist die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gegründet worden, die diesen Zustand ändern wollte. Diese terroristische Organisation wurde später ein sehr wichtiger Akteur bei der Ermordung von Juden von 1941 bis 1944.
Gewiss war das historische Buczacz kein Idyll, aber: Gab es dort Kräfte, die gegen den wachsenden Nationalismus waren?
Gute Frage. Ich würde sagen, die Leute, die da vor dem Nationalismus lebten, verfolgten nicht die Idee, dass alle zusammenleben. Jede Gruppe blieb weitgehend separat und hatte ihre eigenen Narrative. Die Geschichten, die sie sich selbst erzählten, unterschieden sich stark. Was am Ende des 19. Jahrhunderts begann, war, dass diese Geschichten nicht mehr nur waren: Warum sind wir hier? Sondern auch: Warum sind die anderen hier? Sie gehören nicht her! Es gab keine Sprache für die Idee, die wir jetzt haben: eine pluralistische Gesellschaft, in der es gut ist, dass wir verschiedene Menschen aus verschiedenen Kulturen haben. Das war kein Teil von dem, was die Menschen damals dachten.
Auch nicht die Juden?
Die Mehrheit dort war religiös. Die wollten das Leben haben, das sie vorher hatten. Das Problem war jedoch, dass man nicht so weiterleben konnte. In den zwanziger und dreißiger Jahren wächst der Antisemitismus. Sie finden keine Arbeit, können nicht auf das Gymnasium gehen. Alle Türen sind verschlossen, und deshalb sagen viele Juden: Wir müssen hier raus. Aber es ist schwer, rauszugehen, denn: Wohin geht man? Nach 1936 sind die Türen in Palästina fast geschlossen. Die in die USA auch.
Ihre Eltern sind ausgewandert.
Mein Vater ist in Palästina geboren. Meine Mutter ist 1935 nach Palästina gekommen, mit ihren Eltern und zwei Brüdern. Der Rest der großen Familie ist in Buczacz geblieben. Alle wurden ermordet. Niemand kam raus.
Wie haben Sie die Ukraine wahrgenommen?
Ich bin 1954 geboren. Ich gehöre mit zur ersten Generation von Kindern, die im neuen Staat Israel geboren wurden. Für uns gab es zwei Sachen, über die wir nie gesprochen haben: Diaspora. Die existierte nicht. Es gibt so einen Satz auf Hebräisch: „schelilat hagalut“ – wir sprachen nicht über diese Länder in Europa. Wir sind in Israel geboren. Die Geschichte fing mit uns an.
Und die arabischen Menschen, die dort vorher lebten?
Das ist die zweite Negation, die damals galt. Erstens nicht über ein europäisches Gestern sprechen, zweitens niemals über das in Palästina reden, was gerade vor uns passierte. Also dass Palästina ein Land war, wo die Mehrheit Araber waren. Als wir geboren worden waren, waren sie fast alle nicht mehr da. Aber wir fragten niemals: Wieso? Wohin gingen sie? Warum sind sie nicht da?
Vielleicht, weil Kinder diese Art von Fragen nie stellen.
Kann sein. Jedenfalls: Als ich und meine Schwester Kinder waren, schliefen wir manchmal bei unseren Großeltern, und unser Großvater erzählte uns Geschichten von der Ukraine. Aber er sagte nicht „Ukraine“, es waren Geschichten von Bären, Wölfen, Wäldern, Zwergen. Es waren Geschichten, die nicht jüdisch waren. Weil er viel mit Ukrainern gearbeitet hatte, sprach er deren Sprache – und wir hörten sie. Das war für mich kein geografischer Ort, nicht die „Ukraine“, es waren Geschichten von meinem Großvater.
Wann begannen Sie, sich für ihn und seine Geschichte näher zu interessieren?
In meinen Vierzigern erst. Ich dachte: Ich muss eine Stadt erforschen, um zu sehen, wie der Holocaust in einer Stadt passierte. Und dann sagte ich mir: Vielleicht forsche ich an der Heimatstadt meiner Mutter. Und sie erzählte mir von ihrer Kindheit in Buczacz. An diesem Punkt dachte ich weiter: Was ist dieses Land? Sie erzählte nicht von einem fremden Gelände, vom Antisemitismus, von Furcht. Sie erzählte von einer schönen Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihren ukrainischen Freunden in den Wald ging, um Pilze zu finden. Sie ist vor dem Holocaust gegangen, sie war in Buczacz nur als Kind.
Kurz danach starb Ihre Mutter – und Sie gingen in das Land Ihrer Vorfahren. Wie empfanden Sie die Ukraine?
Als ich das erste Mal in die Ukraine kam, hatte ich sehr gemischte Gefühle. Das ist ein sehr schönes Land. Und ich fühlte mich fast zu Hause, weil ich mich an all diese Geschichten von meinem Großvater erinnerte und an das, was meine Mutter erzählt hatte. Auf der anderen Seite war in Städten wie Buczacz nichts mehr übrig von dem, was vor dem Krieg war. Keine Synagogen, keine jüdischen Friedhöfe, und wenn, dann waren sie zerstört.
Zerstört.
Ja. Ich wusste, dass in all diesen Städten, auch in Buczacz selbst, viele Massengräber waren. Denn von 8.000 Juden vor dem Krieg – die Hälfte der Bevölkerung in Buczacz waren Juden – sind 7.000 in Massengräbern. Und man konnte sie nicht finden, es gab keine Zeichen.
Ihnen muss traurig zumute gewesen sein.
Ein Gefühl von Melancholie. Okay, beim ersten Mal war es auch März, es war sehr kalt und schlammig. Die ganze Erfahrung war schwierig. Aber danach bin ich viele Male hingefahren, und es ist jetzt anders. Es gibt Versuche, diese Geschichte zu erinnern. Das ist zwar nicht wie in Polen, aber man hat angefangen. Und ich war ein Teil davon!
Ein Aufsatz von Ihnen im New Fascism Syllabus trägt die Überschrift: „Meine Ukraine ist noch nicht verloren“. Ein glühendes Plädoyer für die Ukraine heute. Warum?
Ich war viele Jahre nicht so populär in der Ukraine, weil ich über diese Geschichte, also die „Anatomie eines Genozids“ an den Juden, geschrieben habe, und viele ukrainische Nationalisten und auch normale Ukrainer diese Geschichte der Kollaboration bei der Ermordung der Juden nicht erinnern wollten. Diese Geschichte ist aber wichtig. Deutsche wissen, was ich meine: In den fünfziger und sechziger Jahren war es dort auch so.
Die Ukraine erklärte sich erst 1991 zum eigenen, von Russland unabhängigen Land.
Vorher gab es nur dieses kommunistisch-sowjetische Narrativ von Geschichte, wo Juden und der Holocaust nicht existierten. Und nach 1991 wollten die Ukrainer Helden, Nationalhelden präsentieren. Einige davon waren Leute wie Stepan Bandera …
… der Freund der deutschen Nazis.
Bandera ist auch heute ein großer Held, besonders in der Westukraine. Das ist ein Teil der heutigen Wirklichkeit. Auf der anderen Seite hat sich die Ukraine verändert. Wir wissen von Deutschland, Frankreich und vielen anderen Ländern, dass das ein langer Prozess ist. Die Ukraine heute ist ein sehr diverses Land, und was erstaunlich ist: Bei der letzten Wahl hat ein Präsidentschaftskandidat gewonnen, der nicht nur Jude ist. Vielmehr, und darauf kommt es an, seine persönliche Identität war keine Sache! Man hat darüber nicht gesprochen. Er hat mehr als die Hälfte der Stimmen gewonnen, und das heißt was.
Wie lesen Sie diese Tatsache?
Dass die Ukraine eine Selbstahnung hat von sich als einem diversen Land. Wo Religion und ethnischer Ursprung nicht so wichtig sind. Ich will nicht sagen, dass es keine Extremistengruppen gibt. Es gibt sie, und zwar mehr in der West- als in der Ostukraine. Einige davon sind jetzt in der Ukraine, weil sie kämpfende Gruppen sind, die extrem radikal-rechts sind. Aber das sind marginale Gruppen. Sie hatten keine politische Repräsentation im Parlament. Sie stehen nicht für alle. Das ist die eine Seite.
Und die andere?
Haben wir jetzt einen Staat, Russland, der entschieden hat, dass er einen Nachbarstaat nicht liebt. Dass man diesen Staat erobern muss, weil dieser Staat etwas hat, das Russland nicht liebt. Dass man einfach da einmarschieren und diesen ganzen Staat zerstören kann. Das kann man nicht akzeptieren.
Eine für Juden gewiss schmerzhafte Solidarität mit der Ukraine.
Es ist eine Geschichte voller Widersprüche. 100.000 Juden wurden bei Pogromen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine 1919 getötet. Von Nationalisten, von Kommunisten. Und doch müssen wir diese Stadt, Kiew, dieses Land, die Ukraine, verteidigen. Weil die Ukraine das Gegenbeispiel für Putin ist, für das, was er nicht will. Er kann nicht ertragen, dass die Ukraine eine Kultur und Sprache hat, die ganz nah an Russland sind, aber ein demokratischer Staat ist. Das muss er zerstören. Und wir müssen das verteidigen.
Putin sprach früh von Entnazifizierung der Ukraine.
Unsinn. Die Ukraine ist nicht von Nazis regiert. Es ist ein propagandistischer Versuch, eine Lüge. Etwas, das jedoch einen Kern von Wahrheit hat. Es gibt Neonazi-Elemente in der Ukraine. Aber was wichtiger ist: Viele Russen, und nicht nur Russen, erinnern sich, dass im Zweiten Weltkrieg die Rote Armee, die Sowjetunion, gegen Nazis gekämpft hat. Die Rote Armee hat einen hohen Preis bezahlt, höher als andere Staaten zusammen. Ohne die Rote Armee wäre es unmöglich gewesen, diesen Krieg gegen Nazideutschland zu gewinnen. Viele Leute haben die Propagandainformation Putins akzeptiert, zunächst jedenfalls, auch in Teilen der israelischen Bevölkerung und auch in linken Kreisen in Europa, weil sie glauben, wie Putin sagt, dass der Krieg gegen die Ukraine ein zweites Kapitel des Großen Vaterländischen Kriegs von 1941 bis 1945 sei, was aber Unsinn ist.
Wofür plädieren Sie politisch, womöglich militärisch?
Mehr Waffen in die Ukraine schicken, bessere Waffen? Ganz klar: Ja! Man muss das machen. Man muss ihnen Flugzeuge schicken, Raketen schicken, gegen Flugzeuge und gegen Schiffe, wie in Odessa. Man muss das tun. Natürlich wird Putin sagen: Ich erlaube das nicht. Aber man kann und muss das tun. Denn wenn die Nato sagt, wir werden Nato-Staaten verteidigen, dann ist das gut. Aber heißt das, dass alle anderen Staaten, die kein Teil der Nato sind, ganz einfach attackiert und erobert werden können? Die ganze internationale Ordnung ist jetzt gefährdet. Man muss das jetzt tun, denn wenn die Ukraine verschwunden ist, als unabhängiger Staat, wird Putin direkt auf andere Staaten losgehen. Moldawien, das Baltikum … Nein. Da müssen wir Stopp sagen!
Sagen Sie jetzt eigentlich auch „Slava Ukraini“ – Ruhm der Ukraine?
Nein. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich die Ukraine zwar nachdrücklich unterstütze, aber den Slogan „Slava Ukraini“, der von vielen westlichen Befürwortern aufgegriffen wird, nicht gutheißen kann. Und das liegt daran, dass diese Parole während der deutschen Besatzung in den vierziger Jahren häufig von Mitgliedern nationalistischer und kollaborierender ukrainischer Organisationen verwendet wurde, solchen, die auch am Holocaust beteiligt waren. Nichtsdestotrotz hat diese fast acht Jahrzehnte zurückliegende Geschichte keinen Einfluss auf meine heutige Verurteilung der russischen Invasion in der Ukraine.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich