Die alten und die neuen 20er: Ins Offene
Wenn man jetzt wieder von den „20ern“ spricht, passiert das oft vor der Folie der Weimarer Republik. Der Vergleich kann aber etwas Lähmendes haben.
E igentlich ist es ja nur eine willkürliche gesetzte Zäsur im Ablauf der Tage, eine Spielerei mit Daten. Irgendwann nach Silvester hängt man den alten Wandkalender ab, ersetzt ihn durch einen neuen und trägt die ersten Termine des noch jungen Jahres ein. Das Leben wird nicht plötzlich ein anderes, nur weil auf dem Kalender eine andere Zahl steht. Was einen im Dezember umgetrieben hat, beschäftigt einen meist genauso im Januar. Unliebsame Dinge im alten Jahr zurücklassen? So richtig klappt das ja eigentlich nie.
Obwohl man natürlich weiß, dass die Erde sich ungerührt weiterdreht, egal welche Zahlen die Menschen ihren Tagen geben, wird das Gefühl bei diesem Jahreswechsel doch ein besonderes sein, denn am 1. Januar beginnt – zwar nicht nach der historisch korrekten Zählweise, wohl aber nach den umgangssprachlichen Gepflogenheiten – ein neues Jahrzehnt. Willkommen in den neuen 20ern!
Das Wort „neu“ ist hier wichtig, denn kein anderes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist so mythenumwoben und zurzeit so medial präsent wie die 1920er. Wenn man jetzt wieder von „den 20ern“ spricht, blickt man auf die kommenden Jahre daher mit einer historischen Folie im Kopf. Und gibt es nicht tatsächlich große Parallelen?
Viele Menschen nahmen die alten 20er als Phase der extremen Beschleunigung wahr. Technische Neuerungen veränderten das Leben – es gab neue Medien, viel mehr Informationen und visuelle Eindrücke. Die Emanzipation der Frauen machte große Fortschritte. Und die gesellschaftliche Stellung war längst nicht mehr so festgezurrt wie noch im Kaiserreich. Das hieß aber auch, man konnte viel schneller absteigen. Eine Erfahrung, die in der Hyperinflation 1923 sehr viele machten.
Die alten 20er sind in der deutschen Geschichte aber immer auch Chiffre für eine Demokratie, die sich nicht entschieden genug gegen rechts gewehrt hat. Weil es zu wenige überzeugte Demokraten gab, und weil sich die junge Republik in Justiz, Verwaltung und Militär auf die alten Eliten des Kaiserreichs stützte, die die neue Staatsform ablehnten. Der Mathematiker Emil Julius Gumbel zeigte früh, wie blind die Weimarer Justiz auf dem rechten Auge war.
Bewunderung und Schauder
Wenn wir heute auf diese Zeit blicken, dann meist mit einer Mischung aus Bewunderung für deren lebhafte Kultur und gesellschaftliche Modernisierungsleistung und Schauder, weil am Ende der Weimarer Republik die Terrorherrschaft der Nazis stand. Wobei das damals noch keineswegs festgeschrieben war, die Geschichte hätte auch Ende 1929 noch einen ganz anderen Verlauf nehmen können.
Und trotzdem gibt es wohl kein Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, das so oft teleologisch, so zielgerichtet gelesen wird – als sei die Dekade nur ein buntes Vorspiel und letztes Aufbäumen vor dem NS-Terror gewesen.
Wenn wir jetzt in die Zukunft und auf die neuen 20er blicken, ist es wichtig, die Offenheit der Entwicklung im Kopf zu behalten: Nichts ist bereits festgeschrieben. Der Vergleich mit Weimar, gepaart mit der teleologischen Lesart, kann etwas ungemein Lähmendes haben, weil er unsere Vorstellung der Zukunft in einen Korridor von Negativassoziationen zwängt.
Ja, es gibt Ähnlichkeiten, 2019 war das Jahr, in dem in diesem Land mit Walter Lübcke wieder ein Politiker von einem Rechtsextremen erschossen wurde. Wie in der Anfangsphase der Weimarer Republik. Es war auch das Jahr, in dem ein geplanter Massenmord in einer Synagoge in Halle nur knapp scheiterte. Und in den Parlamenten sitzt heute wieder eine Partei, die offen mit faschistischem Gedankengut hantiert.
Und ja, wir nehmen Ballast aus dem nun vergangenen Jahrzehnt mit ins neue, Rechtspopulisten haben in vielen Ländern die Demokratie stark beschädigt, und der Kampf gegen die Erderhitzung – das zentrale Zukunftsthema – ist bisher allenfalls schleppend in Gang gekommen. Aber die Geschichte der neuen 20er ist noch nicht geschrieben. Es liegt auch an uns, wie sie ausgeht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!