Die Wahrheit: Der schmatzende Schlund der Hölle
Es gibt ein Leiden, das noch viel zu wenig bekannt ist in dieser kalten und lauten Welt und den Betroffenen täglich das Leben verleidet.
D ass Eltern ihren Teenager-Kindern auf den Sack – oder andere metaphorische Körperteile – gehen, gilt als völlig normale Nebenwirkung der Pubertät. Ich aber fand schon als Siebenjähriger meine Mutter abstoßend. Mehrmals am Tag. Allerdings jeweils nur für zwanzig bis dreißig Minuten.
Die Ekelattacken fanden immer während der Mahlzeiten statt. Mir kam es nämlich so vor, als ob meine Mutter beim Essen Geräusche von sich gäbe wie eine Herde Schweine am Fütterungstrog. Gleichzeitig schämte ich mich dafür, so zu empfinden. Schließlich wusste ich als frommes Kind, dass man Vater und Mutter ehren sollte: 2. Mose 12, Vers 20. Aber wie sollte ich das tun, wenn ich doch das Gefühl hatte, einem schlürfenden, schmatzenden, ohrenbetäubend laut schluckenden Dämon gegenüberzusitzen?
Der Umstand, dass wir in einem Zwei-Personen-Haushalt lebten und ich die Mahlzeiten fast nie mit anderen Menschen einnahm, beförderte meine Selbsteinschätzung, ein undankbares, seine Mutter abgrundtief hassendes Balg zu sein. Das Einzige, was mich beruhigte, war, dass der Hass nach den Mahlzeiten immer wieder überraschend schnell abklang und ich keinerlei Familienmassaker plante.
Ich lebte einige Jahre mit meinem schlechten Gewissen, bis mir klar wurde: Ich fand nicht nur meine Mutter widerlich, sondern auch meine Freunde. Und deren Eltern. Eigentlich alle Menschen.
Es war bei einem Abendessen am Tisch meiner Jugendliebe: Vater, Mutter, Oma, Bruder und meine Freundin – alle schmatzten und schluckten so aufdringlich laut, dass mir die Essgeräusche meiner Mutter im Vergleich dazu vorkamen wie eine in der Ferne erklingende Querflöten-Etüde …
Die Jahre vergingen, zwischen den Mahlzeiten war alles gut, aber während des Essens dachte ich wirklich immer wieder, ich könne Menschen grundsätzlich nicht ertragen. Ich dachte: Hartmut, du bist ein Misanthrop. Du solltest als Eremit in einer Höhle wohnen!
Vor einiger Zeit aber lieferte mir jemand, dem ich meinen Menschenhass in angeschickertem Zustand voller Scham enthüllte, die naheliegende, aber von mir – aus Unkenntnis – nie in Erwägung gezogene Erklärung. Ich leide unter „Misophonie“, wörtlich: „Hass auf Geräusche“, einer wohl gar nicht so seltenen psychischen Störung. Man beschreibt damit eine extrem niedrige Toleranz gegenüber bestimmten Geräuschen.
Ich habe also gar nichts gegen Menschen! Es macht mich nur wahnsinnig, sie essen zu hören. Nicht mehr, nicht weniger. Seit dieser Erkenntnis bin ich auf der Suche nach einer Selbsthilfegruppe. Neulich hatte ich einen Albtraum: Endlich war ich fündig geworden. Nach der ersten Sitzung der „Anonymen Misophoniker“ – was im Übrigen auch ein hübscher Name für eine Punkband wäre – standen wir noch plaudernd beieinander. Plötzlich holte jemand eine Dose aus einem Leinenbeutel, öffnete sie und fragte: „Kekse?“
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