Die Wahrheit: Zurück zur Natur. Jetzt!
Der neue Run auf die Wälder: Eine finale Expedition ins verschwindende Grün zur Beobachtung junger Content-Creators beim Extrem-Existieren.
Kurz vor dem drohenden und kompletten Kollaps unseres Ökosystems strömt nun alle Welt noch einmal, ein allerletztes Mal hinaus ins Freie. Pilze sammeln, Waldbaden und Bushcrafting – Deutschland entdeckt die Natur neu, streift mit glänzenden Pionieraugen zwischen Buchen, Bächen und Borkenkäfern umher. Grund genug auch für uns, sich ins absolut Unbekannte zu werfen: ab in den Stadtwald!
Ein Stadtbus fährt mich dorthin. Nun heißt es Obacht: Ein typischer Anfängerfehler ist es bekanntlich, den Wald vor lauter Bäumen gar nicht zu sehen! Das soll mir nicht passieren, irgendwo dort zwischen ihnen muss er schließlich sein.
Waren Bäume hierzulande über viele Jahre in erster Linie dazu gut, Bücher über Bäume aus ihnen zu machen, will man inzwischen wieder die ultimative „Experience“. Nah dran sein. Das ist auch mein Motto. Ausgestattet nur mit dem Notwendigsten marschiere ich los. Mit dabei: ein Sonnenhut, ein Kompass und ein 180 Kilogramm schweres Dieselaggregat auf Rädern. Im Notfall lade ich damit meinen Handy-Akku.
War das Wetter eben noch stürmisch, scheint es nun am Horizont aufzuklaren. Erst bei genauerer Betrachtung erkenne ich, dass es sich dabei um ein Ringlicht mit Kamera handelt, vor dem ein bärtiges Männchen in Tarnfarbe hektisch seine Abmoderation macht. Typisch für die Jahreszeit: Junge Content-Creators verlassen das Nest, filmen sich mal eben im Wald beim Extrem-Existieren und bezirzen damit die Zuschauer an den Hightech-Endgeräten. Zurück zu den Ursprüngen lautet ihr Motto – einzig sie selbst, eine Millionen Voyeure und ein Mikrobiom am Limit sind im Spiel.
Außenklo mit Darmgeräuschen
„Wo geht es denn hier in den Wald?“, wollen wir vom bärtigen Männchen wissen. „Ha!“, lacht der. „Gucken, Keule, einfach gucken. Hart für einen Anfänger, ich weiß. Jeden Stein zweimal umdrehen! Irgendwann findest du auch mein Außenklo!“ Wir verabschieden uns, noch von Weitem hören wir den jungen Content-Creator, begleitet von Darmgeräuschen, lachen.
Weitersuchen also nach dem Wald. Dann die Überraschung: Das Handy klärt mich auf, dass ich mich längst im Wald befinde. Eigentlich hatte ich mir das Ganze ein wenig spektakulärer vorgestellt. Bäume, so dachte ich fehlgeleitet von deutscher Literatur über Bäume, Bäume führen ein geheimes Leben! Sie unterhalten und mobben sich, dass es nur so kracht, sie scherzen, rammeln und torkeln abends angeheitert durch die Wälder. Pustekuchen! Bäume jagen auch nicht Fuchs und Hase aus dem Bau – sondern stehen einfach so in der Landschaft herum, wie ich feststellen muss.
Eine weitere hilfreiche Information trudelt plötzlich auf meiner Expedition im Stadtwald ein: „Riecht es im Wald nach Maggi“, warnt mich der Instagram-Überlebensticker, „ergreift man besser die Flucht: Wildschweinalarm!“ Aber, ist es nicht grundsätzlich ratsam, bei Maggi-Geruch die Flucht zu ergreifen, egal ob im Wald oder woanders?
Abschalten mit Astronautennahrung
Ich ziehe noch tiefer in die Botanik. Auf einer Lichtung bauen sich ein paar „Aussteiger“ ein Lehmhaus. Wir pirschen uns heran, wollen sie nicht gleich verschrecken. „Servus!“, ruft ein junger Mann in Bundeswehrklamotten, der gerade Astronautennahrung über dem Lagerfeuer anrührt. „Setz dich, iss mit uns“, sagt eine junge Frau mit blonden Dreadlocks, die ihr bis zu den Wanderschuhen reichen. „Ich bin die Survival-Steffi und das ist der Outdoor-Ronny.“ Gemeinsam verbrächten sie immer mehr Zeit im Wald. „Abschalten, gute Luft atmen und dem Finanzamt entkommen, darum geht es doch“, lächelt sie entrückt.
Zu späterer Stunde zückt Outdoor-Ronny als guter Gastgeber noch die Gitarre. Survival-Steffi beschwört die Waldelfen, bittet sie, den Abwasch zu übernehmen. Dann Panik: starker Maggi-Geruch von rechts. Outdoor-Ronny lacht, als er mein verängstigtes Gesicht sieht. „Hab doch nur Maggi in mein High-Protein-Rührei gemacht!“ Gelächter allerseits, das in ein regelrechtes Grunzen übergeht. Ein Wildschwein steht jetzt hinter Ronny, scharrt mit den Hufen, spießt ihn auf und verschwindet – im Wald.
Was tun? Survival-Steffi meint, weil die Dunkelheit nahe, habe es keinen Sinn, nach Ronny zu suchen. Außerdem hätte er eigentlich immer schon gestört „mit seinem verstimmten Geklimper“. Wir teilen letztlich die Reste der Astronautennahrung, lassen den Abend in kleiner Runde ausklingen. Der Ruf der Wildnis, er hat mich gepackt. Weit draußen, hier tief drinnen unter lauter Bäumen, ist also ein anderes Leben möglich. Zwischen Bovisten, Bläulingen und Bärenkot: Sie finden mich fortan genau dort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja