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Die WahrheitSchweiß auf den Augenbrauen

Männer, die auf Kühe starren: Das könnte auch ein Grund für verlassene Dörfer an der irischen Küste sein.

E s schade nichts, wenn sich auf meinen Augenbrauen Schweißtropfen bildeten, meinte die Ärztin. Ich sollte beim Spazierengehen ruhig einen Zahn zulegen. Das tat ich vorige Woche auch, aber eher unfreiwillig.

Ich hatte mich schon immer gefragt, wo der Weg neben der Wiese gegenüber meiner Stammkneipe eigentlich hinführt. Ich hatte ihn bisher lediglich beim Blick aus dem Fenster des Pubs wahrgenommen. Das wollte ich ändern. Áine und ich machten uns beherzt auf den Weg. Er endete schon nach 200 Metern am Meer. Hinter einem Zaun auf der Wiese lag ein verlassenes Dorf. Die Grundmauern und einige Wände standen noch, die Strohdächer waren längst verschwunden. Leider kam man nicht näher heran, weil Kühe auf der Wiese grasten.

Unser Nachbar, Bauer Pat, hatte uns gewarnt, dass Kühe gefährlicher als Stiere sein können. Er selbst hat drei Salers. Die Rasse stammt aus der französischen Auvergne, wo ein ähnliches Klima wie bei uns im Westen Irlands herrscht. Weil hier kein Getreide wächst und der Boden für Milchwirtschaft zu schlecht ist, hält man Rinder für die Fleischproduktion. Bevor sie geschlachtet werden, dürfen sie sich in den irischen Midlands, wo das Gras saftig ist, nochmal richtig satt fressen, damit sie etwas Gewicht zulegen.

Salers sind rotbraun, und mit ihrem zotteligen Winterfell sehen sie recht niedlich aus. Das täuscht. Sie wollen töten. Pat weiß das aus Erfahrung. Eine Kuh hatte ihm den Weg abgeschnitten und jagte ihn über die Wiese. Er hätte es nicht bis zum rettenden Gatter geschafft, wenn sein Stier der Kuh nicht ein Bein gestellt hätte.

Hungersnot? Landflucht!

Auf dem Rückweg vom Meer begegneten wir dem Vater unseres Kneipenwirts. Er ist 89, sieht aber viel jünger aus. Seiner Familie gehört das Land zwischen dem Wirtshaus und dem Atlantik, also auch das Geisterdorf. Es sei nicht während der Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts verlassen worden, wie wir annahmen, sondern erst Anfang des 20. Jahrhunderts, erzählte er. Die Familien hatten vom Fischfang gelebt, aber die junge Generation sei in die Stadt gezogen.

Meine Neugier war geweckt, ich wollte das Dorf inspizieren. Am nächsten Tag war die Wiese leer, die Kühe waren offenbar umgezogen. Ich kletterte über den Zaun, Áine blieb auf der sicheren Seite, weil ihr das Gelände zu unübersichtlich erschien. Meine höhnischen Bemerkungen blieben mir im Hals stecken, als plötzlich mehrere Kühe hinter einem Gebüsch auftauchten und im Dauerlauf auf mich zukamen. Und kein Stier in Sicht, der ihnen hätte ein Bein stellen können. Áine fragte mich aus sicherer Entfernung nach der Geheimnummer meines Kontos, während ich mich in das verlassene Dorf rettete und von dort über den Stacheldrahtzaun hüpfte.

Jetzt hatte ich Schweiß auf den Augenbrauen. Ich glaube aber, dass meine Ärztin keinen Angstschweiß gemeint hatte.

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Ralf Sotscheck
Korrespondent Irland/GB
Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net
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2 Kommentare

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  • Wenn man mit 68-69 noch über Stacheldrahtzäune hüpft, ist alles in Ordnung.