Die Wahrheit: Die Arbeitsplatzverweigerung
Ein ehemaliger Beschäftigter, der die Firma schleichend ruiniert, ist heikel. Unerledigtes bleibt hier unerledigt, die Dinge nehmen ihren Lauf …
I ch weiß sehr wohl, wie abwegig es klingt, aber ich habe den Eindruck, wieder dieselbe Stelle bei derselben Firma innezuhaben wie vor vielen Jahren. Was ich hingegen nicht weiß, ist, wie lange es schon so geht und wie es dazu kommen konnte.
Erst vor ein paar Tagen bin ich darauf aufmerksam geworden. Seither glaube ich, Räumlichkeiten, Kollegen und Arbeit von früher her zu kennen. Verglichen mit meiner Erinnerung an damals sieht aber alles irgendwie fremd, ja, geradezu falsch aus. Wahrscheinlich habe ich den Schwindel deshalb so spät durchschaut.
Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen jetzt andere Namen, scheinen sonst jedoch – genau betrachtet – mit den Menschen identisch zu sein, die sie in der fernen Vergangenheit waren. An meinem wegen der privaten Dekorationsgegenstände, mit denen er geschmückt ist, auf mich vertraut wirkenden Arbeitsplatz liegt noch sehr viel Unerledigtes aus meiner früheren Zeit bei der Firma. Es ist ein zum Verrücktwerden furchteinflößendes Papierzeug, von dem ich überhaupt nicht ahne, was ich damit anfangen soll.
Eine atavistische Situation
Die Erkenntnis, nach wer weiß wie vielen Jahren in eine solche atavistische Situation zurückgefallen zu sein, macht mich unfähig, auch nur in Betracht zu ziehen, diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Erstaunlicherweise wird meine Verweigerung von allen stillschweigend hingenommen. Auch mein immer häufigeres und immer länger dauerndes Verlassen des Arbeitsplatzes bleibt gänzlich folgenlos. Es werden nicht einmal Bemerkungen gemacht, wenn ich halbe oder ganze Tage fernbleibe. Niemand scheint die Macht zu besitzen, von mir die Erledigung der sich auf meinem Schreibtisch, in Fächern und Schubladen türmenden Aufträge zu verlangen.
Vorgestern hat mich der Chef in sein Büro bestellt, um ein Gespräch mit mir zu führen. Ernst, aber nicht im geringsten vorwurfsvoll, sagte er, meine Haltung, meine profunde Überzeugung, alles längst hinter mir gelassen zu haben, raube der Firma das Selbstvertrauen und letztlich die Fähigkeit zum Fortbestehen. Das deshalb zunehmend in Auflösung begriffene Unternehmen werde sogar schon in einer offiziellen Liste mit dem Titel „Die, welche es in diesem Jahr nicht schaffen“ geführt.
Um eine konstruktive Lösung bemüht, fuhr er fort: „Vielleicht brauchen Sie etwas, woran Sie glauben können, um sich stärker für unsere Firma zu engagieren? Was könnte Ihnen dabei helfen? Zum Beispiel erzeugen Implausibilitäten – wie etwa in religiösen Systemen – stärkere affektive Beteiligung.“ Ich ging nicht darauf ein, sondern saß nur schweigend da, bis der Chef resignierte.
Heute wurde bekanntgegeben, dass die Firma am Ende ist. Schon morgen soll die Abschiedsfeier stattfinden. Dann will ich eine Buttercreme-Schokolade-Torte und eine Flasche Wein unauffällig beiseiteschaffen, um sie mit nach Hause zu nehmen. Wer sollte mich daran hindern?
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