piwik no script img

Die WahrheitIn vollen Zügen genieren

Als rasender Kolumnist müssen Artikel mitunter unterwegs in der Bahn verfasst werden. Doch auf den Nebensitzen hocken gern diese Kiebitze.

I hr Bildschirm ist aber ganz schön staubig“, sagt der Mann im überfüllten Zug auf dem Platz neben mir. Meine Güte, denke ich. Nach billigem Fusel stinken, aber sich über Staub auf meinem Laptop beschweren.

Ich hasse es, im Zug Texte zu schreiben, weil ich unter der Paranoia leide, dass die Sitznachbarn mitlesen, was mir extrem unangenehm ist. Warum, weiß ich nicht. Ist ja schließlich nicht geheim, sondern muss ich gleich schon an die Wahrheit-Redaktion zur Veröffentlichung schicken. Weshalb ich mir auch nicht erlauben kann, jetzt aufzuhören, obwohl er mitlesen könnte. Aber der ist ohnehin mit irgendeinem Bruce-Willis-Film auf seinem Handy beschäftigt.

„Sie haben über mich geschrieben! Das ist ja unverschämt!“ – „Ich habe doch nicht über Sie geschrieben! Ich habe über einen Mann geschrieben, der nach Alkohol stinkt. Sie sind aber eine Frau und haben nur offenkundig zu viel Parfum heute morgen aufgetragen“ – „Aber Sie schreiben über die Person, die neben Ihnen im Zug sitzt. Das macht man nicht!“ – „Und Sie lesen, was ich schreibe, das macht man auch nicht!“ – „Ich lese überhaupt nicht, was Sie schreiben, ich habe nur aus den Augenwinkeln mitgekriegt, dass Sie über mich schreiben.“ – „Ich habe über einen Mann geschrieben, und Sie sind eine Frau. Das sind nicht Sie. Das ist literarisiert.“ – „Sie haben geschrieben, dass ich Bruce Willis gucke. Das ist nicht literarisiert.“ – „Literatur muss sich nun mal von der Wirklichkeit inspirieren lassen“, erwidere ich. Der Mann, der in Wirklichkeit eine Frau ist, schnauft beleidigt.

„Wenn du schwanger wirst, heirate ich dich“, sagt ein Typ auf dem Sitz hinter mir. „Wieso willst du mich denn nicht jetzt schon heiraten?“, fragt seine Begleiterin. „Wer weiß, wie sich alles entwickelt. Da muss man doch noch nicht heiraten.“ – „Aber wenn ich schwanger bin, oder was?“ – „Ja, dann ändert sich alles. Wenn du schwanger wirst, heirate ich dich.“ – „Dann sorg halt endlich dafür, dass ich schwanger werde“, sagt die Frau verärgert. „Was soll das denn heißen?“, sagt der Typ, „Ich tue ja wohl alles, was man tun kann, damit du schwanger wirst.“

Er klingt gekränkt. „Aber ich werde trotzdem nicht schwanger, du Loser.“ – „Warum willst du mich überhaupt heiraten, wenn ich ein Loser bin?“ Jetzt klingt er beleidigt. „Wenn du mich schwängern würdest, wärst du ja kein Loser mehr“, bleibt sie erbarmungslos. Er wittert seine Chance: „Sag ich ja, wenn du schwanger wirst, wäre alles anders. Dann kann ich dich auch heiraten.“ Jetzt schweigen beide. Schade, ich wüsste zu gern, ob sie jetzt schmollen oder knutschen, aber ich traue mich nicht, durch die Sitze nach hinten zu gucken.

„Die knutschen!“, sagt die Frau neben mir. Ich seufze und stelle die Schrift auf meinem Bildschirm auf ein helles Grau. Dann zeige ich auf ihr Handy, wo Bruce Willis aus einem Fenster springt: „Sie verpassen da gerade was!“ Sie dreht sich empört zur Seite. Wir sind quitt.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Heiko Werning
Autor
Heiko Werning ist Reptilienforscher aus Berufung, Froschbeschützer aus Notwendigkeit, Schriftsteller aus Gründen und Liedermacher aus Leidenschaft. Er studierte Technischen Umweltschutz und Geographie an der TU Berlin. Er tritt sonntags bei der Berliner „Reformbühne Heim & Welt“ und donnerstags bei den Weddinger „Brauseboys“ auf und schreibt regelmäßig für Taz und Titanic. Letzte Buchveröffentlichung: „Vom Wedding verweht“ (Edition Tiamat).
Mehr zum Thema

16 Kommentare

 / 
  • "In den Übersatz." Danke - Remember -

    SVOBODA - Freiheit -



    Der Chefredakteur veröffentlichte die ihm angedienten Elaborate wie ein Herrscher aller Reussen nach Gutsherrenart je nach Gusto.



    Wagte sich einer der Redakteure/Schreiberlinge in das Kabeus - in dem er zwischen unermeßlichen Bergen von Papierfluten aus denen hie und da Zigarrenqualm drang - residierte!



    Und wagte gar nachzufragen wann und ob und überhaupt....



    Griff er ohne die unvermeidliche Zigarre am Ziehen zu hindern - in das Papiergewusel "Hier nehmens - is eh besser als Ihrs!"

    So geht das c Kurt Vonnegut



    "Wer die Medien kontrolliert, kontrolliert den Verstand."



    Kurt Vonnegut jr.



    Werbefachmann, Journalist, Autor, "Das höllische System"/1952, "Frühstück für starke Männer"/1973, "Slapstick oder nie wieder einsam"/1977 (USA, 1922 - 2007)



    & immer gern genommen -



    "God Bless You, Dr. Kevorkian (1999)



    Deutsch: Gott segne Sie, Dr. Kevorkian: Rundfunkreportagen aus dem Jenseits." Übersetzt von Harry Rowohlt. ( ua wider die Kleinfamilie;))



    de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Vonnegut

    unterm---servíce ---



    deutsch.radio.cz/6...aufbau-und-8560071

    • @Lowandorder:

      Wenn uns die liebe ,scharfe, kluge Netti wiedermal cancelt können wir laut herausschreiben, warum, warum nur in den Übersatz!



      ;-)

    • @Lowandorder:

      Ok Ok. Dann noch zu Kiebitzen der aus dem Skat - but - entre nous only -

      Ohne anzuklopfen stürmte der nicht sonderlich geschätzte Kollege rein - blieb wie angewurzelt stehen & las!



      "Alles falsch! Alles falsch!"



      "Das mach ja alles sein. Sie ham´s aber nicht zu entscheiden & nun machen´s - daß Sie rauskommen!"



      (Er hatte recht - auch wenn er nicht recht hatte - aber das ist eine andere & längst eine bittere Geschichte!;((

    • @Lowandorder:

      Sorry - Alte Hütte & thnx a lot for assist

      Is for You - Ringelnatz gestern 22:53 -



      Scan-Bau-ddr-Platte-Penthouse;))

  • Hat mir gut gefallen, die Anekdote! ;)

  • Klasse. Ich bin begeistert. Diese Satire ist für mich ein echtes Qualitätsprodukt. Alles scheint so alltäglich, fast banal, eine ICE-Fahrt halt. Doch das ist das Schicksal eines rasenden Satire-Kolumnisten, dass ihn die Wirklichkeit gerade dann ihre absurden Seiten aufnötigt. Ja der Leser, der hat es leicht. Der darf auf seinem Schreibtischstuhl hocken und sich am Bericht darüber erfreuen. Doch wie enervierend ist das denn? Furchtbar enervierend. Aber der Kolumnist lässt sich den letzten Nerv nicht rauben und packt das Geschehen in entlarvende Dialoge. Gekonnt hält er dabei die Balance zwischen einem gewissen Grusel, einem gewissen Erschrecken über die Akteure und ihr reden und dem Lachen darüber. Sehr gelungen. Das könnte man als Vorlage für Sketsche a la Loriot nehmen. Ich male sie mir schon bildhaft aus. Satire-Kolumnistas und Kolumnisten haben es nicht leicht. Sie sind den Wirkungen der anderen Seiten der Wirklichkeit offener ausgesetzt. Deshalb gebührt ihnen Anerkennung, wenn sie uns dennoch tapfer darüber berichten.

    • @Moon:

      Ein Loriot kam mir beim Lesen auch in den Sinn - Mit Krebs und Berben besetzt.



      Herrlich!

    • @Moon:

      Wieder mal reingeschaut.



      Klar, wir sind fast so gut!



      .....Langten spätabends noch Inserate ein, dann fielen ganze Seiten redaktionellen Textes weg, oder, wie man euphemistisch sagte, »in den Übersatz«. Wenn sich der Verfasser eines geopferten Artikels darüber beschwerte, konnte er vom Administrationschef die Sentenz hören: »Unsere Abonnenten lesen tausendmal lieber Inserate als eure Weisheiten.«......



      Egon Erwin Kisch



      Marktplatz der Sensationen



      www.projekt-gutenb...satio/chap003.html

      • @Ringelnatz1:

        Danke für den Link.



        ... Salzburg bleibt Salzburg,



        Orski bleibt Orski, und -



        Erwin bleibt Egon...

        • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

          Kurzedrift1:



          ....Und wenn es zu Ende, die hundertvierundvierzigste Stunde abgeläutet ist, dann hat der erste, der, dem Delirium tremens nahe, lallend vom Rade sinkt, den Sieg erfochten, ein Beispiel der Ertüchtigung.....



          ... Wenn der Spurt vorbei ist, verwendet man die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Kurve, sondern auf die Nachbarin, die auch eine bildet...



          Es ist die tolle B.a.e.a.r.h.!!



          www.tagesspiegel.d...hipp/12886882.html

          • @Ringelnatz1:

            "Kriegen keinen zu sehen...



            und auf den Tribünen drängt sich das werktätige Volk von Berlin..."



            Viele Ausslassungen und trotzdem schnön...

  • Oh, schön!



    Endlich wieda ma ehner, der mir sonn, bisgen Dopamin besorgt!



    Auch die beiden Handlungsstränge äußerst gelungen!



    Ne Steilvorlage für kommende, kognitive Gespräche im Zug.



    .. aber ich traue mich nicht, durch die Sitze nach hinten zu gucken.



    „Die knutschen!“, sagt die Frau neben mir......



    Lachus Interruptus!

    „Die knutschen!“, sagt die Frau neben mir.

    • @Ringelnatz1:

      "Die knutschen!“, sagt die Frau neben mir......



      Was will uns dieses sagen?

    • @Ringelnatz1:

      Geht mir ganz ähnlich. Das ist wirklich "The right Stuff". Satire ist unverzichtbar.

      • 9G
        95820 (Profil gelöscht)
        @Moon:

        „Satire ist unverzichtbar.“ Ja, aber in diesen Zeiten muss da unbedingt noch „in diesen Zeiten“ vor- oder angehängt werden.



        (Schließe mich dem Lob für Heiko Werning an.)

        • @95820 (Profil gelöscht):

          "Satire ist unverzichtbar."



          Das galt schon immer, wird auch immer gelten, - also auch "in diesen Zeiten“!