Die Wahrheit: Das Kalifat des Zottels

Der Berliner Kolumnist Harald Martenstein und seine geköpften Kommentare zu den komplizierten Krisen dieser Welt.

Der große, alte Mann der Kolumne, Harald Martenstein, bei seiner schwerwiegenden Schmunzelarbeit. Bild: Reuters

„Dies ist ein Schreibexperiment“, so leitet Harald Martenstein seine jüngste Kolumne ein, erschienen im Berliner Tagesspiegel am vergangenen Sonntag. Nämlich: „Ich möchte ausprobieren, ob man auch die Gruppe Islamischer Staat verstehen kann, die im Irak ein Kalifat errichten will und dabei massenhaft Leute umbringt. Dazu verwende ich Sätze und Argumente, die ich in den vergangenen Wochen gehört oder gelesen habe, im Zusammenhang mit Putin.“

Was für ein mutiges Experiment! Und doch so naheliegend! Denn die Parallelen sind völlig offenkundig: Sowohl in der Ukraine als auch im Kalifat geht es um irgendwas. In beiden Konflikten tragen viele der Kämpfer Waffen. Und sogar praktisch alle Hosen. Man kann als gesichert annehmen, dass hüben wie drüben gern Äpfel gegessen werden. Und Birnen vermutlich auch.

So kann dieses einzigartige gedankliche Experiment denn beginnen. „Also: Eines ist klar – die Grenzen im Mittleren Osten sind willkürlich von den Kolonialmächten gezogen worden. Der IS hat also das Recht, diese willkürlich gezogenen Grenzen zu verändern. Wenn man sich die Weltkarte anschaut – rund um das neue Kalifat herum liegen Staaten und Gebiete, die keine Kalifate sind. Dass dadurch bei den IS-Kriegern Ängste geweckt werden, ist nachvollziehbar.“

Gut gegeben, da werden sie aber verblüfft gucken, die ganzen ferngesteuerten Russlandfreunde. Aber mehr noch: „Wenn der Westen, statt den IS zu bombardieren, alle Araber entwaffnen würde, die gegen den IS kämpfen, würde dort garantiert bald Frieden herrschen.“ Man spürt Martensteins Zwinkern förmlich im eigenen Augenlid: Alle Araber entwaffnen, die gegen den IS kämpfen! Garantiert bald Frieden!

Jetzt muss auch der dümmste Russlandfreak kapieren, was droht, wenn wir Putin nicht endlich Einhalt gebieten. Falls doch nicht, verdeutlicht Martenstein weiter: „Ob die IS-Krieger da wirklich so viele Frauen vergewaltigen, ist nicht bewiesen.“ Und kommt schließlich zum Fazit: „Wir sollten in aller Ruhe abwarten. Was geht uns das überhaupt an?“

Der Zorn der Scharia-Polizei

Da sind sie baff, die Putin-Versteher! Ganz folgerichtig ist die lustige kleine Kolumne des Schmunzelzausels betitelt mit der Aufforderung: „Nicht wundern“. Schreibexperiment also, das kann man getrost feststellen, vollumfänglich gelungen.

Da will ich nicht nachstehen. Nicht wundern also, dies ist auch ein Schreibexperiment. Ich möchte ausprobieren, ob man die Gruppe Islamischer Staat nicht sogar auch dann verstehen kann, wenn ich Argumente verwende, die ich in den vergangenen Wochen im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des Vorgehens des Westens und der ukrainischen Regierung gehört oder gelesen habe.

Also: Eines ist klar – die islamistischen Kämpfer haben sich erhoben, um gegen die Unterdrückung durch eine korrupte Herrscher-Clique zu kämpfen. Der ganze Norden des Iraks ist im Grunde ja eh nur ein etwas staubig geratener, großer Maidan. Auch dort errichten die Menschen gern Camps. Die Kalifat-Anhänger wollen zudem nur ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen und sich frei dorthin orientieren dürfen, wo sie glauben, dass es ihnen am besten gehen wird. Und noch einen kleinen Tick verlockender als die EU scheint ihnen da nun mal das Himmelreich von Allah zu sein.

Wen wollte das auch wundern? Was sind denn die ganzen osteuropäischen Zwangsprostitutierten (viele aus Russland importiert!), wie man sie bei uns vorgelegt bekommt, gegen 72 tiptop-südländische Jungfrauen, die dazu noch alle halal sind. Da kann man den Zorn der Scharia-Polizei gegen die Vergnügungsmöglichkeiten in Wuppertal gut nachvollziehen.

Auf ein Neues

Trotzdem möchten nicht alle Iraker und Syrer in einem Kalifat leben, manche wollen sich deshalb abspalten oder doch wenigstens autark selbstverwalten. Aber die Grenzen sind nun mal festgeschrieben, das würde ja die ganze Nachkriegsordnung zerstören. Zugegeben, ein Teil der islamistischen Kämpfer ist in der Wahl seiner Methoden etwas unappetitlich – das wäre ja fast so, als ließe man Nazis an einer vom Westen gestützten Regierung mitwirken. Aber das darf man nicht verallgemeinern. Es geht schließlich um unsere westlichen Werte! Nicht wundern, bitte.

Schon ganz schön, dieses Schreibexperiment, aber noch nicht ganz auf Martenstein-Niveau. Ich möchte deshalb jetzt einfach mal ausprobieren, ob man auch die schottischen Separatisten verstehen kann, die in Großbritannien ein Kalifat … Quatsch: einen eigenen Staat errichten wollen und dabei massenhaft Leuten auf den Dudelsack gehen. Dazu verwende ich Sätze und Argumente, die ich in den vergangenen Wochen gehört oder gelesen habe, im Zusammenhang mit dem Berliner Großflughafen BER.

Also: Eines ist klar – die Grenzen vom BER wurden völlig willkürlich gezogen … Nein, lieber doch nicht. Hier sind die Parallelen zu offensichtlich, das wäre für Martensteins Leserschaft unterkomplex. Ein bisschen mehr schelmische Hintergründigkeit muss schon sein.

Auf ein Neues. Ich möchte ausprobieren, ob man auch das Freihandelsabkommen TTIP verstehen kann. Dazu verwende ich Sätze und Argumente, die ich in den vergangenen Wochen gehört oder gelesen habe, im Zusammenhang mit Ebola.

Schon ganz gut, aber es geht noch pointierter. Achtung, jetzt folgt das ultimative Schreibexperiment. Ich möchte ausprobieren, ob man auch den Autor Martenstein verstehen kann, der in Deutschland ein Kalifat des Zeit und Tagesspiegel lesenden Bildungsbiedermeier errichten will. Dazu verwende ich Sätze und Argumente, die ich in den vergangenen Wochen gehört oder gelesen habe, im Zusammenhang mit dem Islamischen Staat.

Also: Eines ist klar – Harald Martenstein schart viele Leser um sich, die überfordert sind von den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre. Jene weißen Männer, die früher das uneingeschränkte Sagen hatten und jetzt zusehends unterdrückt werden von Frauen, Schwulen und irgendwelchen Ausländern. Dazu nimmt er einzelne Themen in Geiselhaft, um sie dann mit seiner Feder, die so spitz ist wie ein arabischer Krummsäbel, geradezu aufzuspießen, um nicht zu sagen: zu köpfen. Dabei sieht Martenstein so zottelig aus wie der durchschnittliche IS-Kämpfer. Ähnlich unrasiert ist er auch … – Huch! Direkt unheimlich! Da wundert man sich ja doch fast schon ein wenig.

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