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Die Kunst der WocheUntergründiges Wissen

Gerhard Faulhaber wie er zeichnete und dachte, Scherben startet eine Serie zu lesbischem Erbe und Erwan Sene zieht es in die Pariser Kanalisation.

Gerhard Faulhaber, „o. T. (nach Talbot)“, 2017, Bleistift auf Karton, 50x70 cm Foto: Courtesy Galerie Zwinger

Gerhard Faulhaber 80“ bei Zwinger will keine Retrospektive sein, sondern eine Erinnerung an den großen Künstler und Zeichner, der im Mai 80 Jahre alt geworden wäre. Gestaltet hat sie Faulhabers Lebensgefährte und Galerist Werner Müller. Und weil er wie kaum ein anderer die magischen Graphitexerzitien und das gesamte Werk kennt, das ihm in seinem ganzen Facettenreichtum zugänglich ist, erlebt man einige Überraschungen.

So steht unerwartet eine Skulptur prominent im Raum – installativ hat man Faulhaber nicht im Gedächtnis. Es handelt sich um ein altes hölzernes Projektorgestell der berühmten Optischen Werke Ernst Leitz Wetzlar, das die Volkshochschule, an der Gerhard Faulhaber (1945-2021) viele Jahre unterrichtete, entsorgen wollte. Jetzt steht statt eines Projektors ein weißer Steinquader darauf, und um die hohen Beine hängt und ringelt sich weißes, teils bemaltes Papier. Der Eindruck eines Körpers drängt sich auf, anthropomorph, aber doch Gegenstand genug, um die Wahrnehmung herauszufordern und sich einer schnellen Deutung zu widersetzen.

Der Körper ist Faulhabers zentrales Motiv. Das zeigt sich schon früh, 1973 in seiner ersten Ausstellung im Realismus-Studio der NGBK. Man meint, die Studentenunruhen hallen noch nach, in dem auf einem Blatt am Boden liegenden Körper eines jungen Mannes, auf den noch eingetreten wird und der auf einem anderen Blatt von zwei Freunden behutsam aufgehoben und in Sicherheit gebracht wird.

Politik und Körper gehen bei Faulhaber bis zum Schluss Hand in Hand, wie die seit 2006 entstandenen Zeichnungen von unerwünschten Migranten zeigen, wie sie unter Lebensgefahr in Containern versteckt aufgefunden werden. Der Künstler fertigte seine Zeichnungen nach den entsprechenden Röntgenaufnahmen und Scans an. Die verwunschene Poesie des Überlebenskampfes derer, die es ins Land geschafft haben, zeigt dann das Blatt eines afrikanischen Händlers, der am Meer Strandutensilien, darunter aufblasbare Schwimmtiere von wundersamer Gestalt, verkauft.

Die Ausstellungen

Gerhard Faulhaber: Gerhard Faulhaber 80, Zwinger Galerie, bis 19. Juni, Di.–Sa. 12–18 Uhr, Mansteinstr. 5

Lesbian Legacies #1: Grace of Desire, Claude Cahun, Florence Henri, Marta Hoepffner, Krista Beinstein. Scherben, bis 8. 6., Fr.–So. 14–18 Uhr + nach Vereinbarung, Leipziger Str. 61

Erwan Sene: Chutes and Signals. 032c Gallery, bis 3. Juni, Mi.–Sa. 12–18 Uhr, Kurfürstendamm 178

Neben dem Körper des Menschen ist es der Baukörper, der Faulhaber interessiert. In seiner Serie von Zeichnungen nach Fotografien von des Fotopioniers Henry Fox finden sich immer wieder Architekturansichten wie die der Kathedrale von Canterbury. An der Pinnwand, die Werner Müller in die Galerie geholt hat, ist ein s/w-Foto vom Berghain zu sehen, jahrelange hing es dort als Vorlage. Aber weil Gerhard Faulhaber den Tempel nie gemalt hat, hat sich Susi Pop des Motivs angenommen.

Neue Räume des Begehrens

Um Politik und Körper geht es auch bei Scherben e.V. mit der dreiteiligen Ausstellungsreihe „Lesbian Legacies“. Zum Gallery Weekend startete der erste Teil „Grace of Desire“ mit dem Anspruch einer Neubewertung des Surrealismus im Werk queerer Künst­le­r:in­nen wie Claude Cahun (1894-1954), Florence Henri (1893-1982), Marta Hoepffner (1912-2000) und Krista Beinstein (*1955).

Mit Claude Cahun haben Tarik Kentouche und Lorenz Liebig vom Kunstraum Scherben sowie Birgit Bosold, Expertin für queeres Kulturerbe, natürlich eine wirkliche Größe des Surrealismus in den Ausstellungsraum geholt. 1935 etwa gründeten Cahun und ihre Part­ne­r:in Marcel Moore zusammen mit André Breton und Georges Bataille die antifaschistische Gruppe „Contre-Attaque“. Fünf von Cahuns wahnwitzigen Selbstporträts, inszeniert als abgetrennter Kopf unter einem Glassturz, sind bei Scherben zu bestaunen.

Claude Cahun, Keepsake 1- 4 (Faksimile), 1939 Foto: Courtesy: KJersey Heritage Museum; (c) Max Eulitz VG Bild-Kunst

Vielleicht nicht wirklich berühmt, aber bekannt ist Florence Henri. Bei Scherben sind schöne Beispiele ihrer typischen Verwendung von Spiegeln für ihre Fotografien zu sehen, mit denen sie komplexe, mehrfach gespiegelte Räume und eine Art kubistische Polyperspektivität schafft. Überraschend ist ein weiblicher Akt, der von einer Papierbahn mit aufgemaltem Kopf verdeckt wird.

Auch Marta Hoepffner war vor allem nach dem Krieg für ihre experimentelle Fotografie sowie ihre private Fotoschule bekannt. Inzwischen ist sie eher vergessen. Wer sich aber mit Kunst und Fotografie der 1920er und 1930er Jahre beschäftigt, kommt an ihren Solarisationen, gerne weibliche Akte, nicht vorbei, wie sie auch Scherben aus den Jahren 1939 und 1940 neben einer abstrakten Farbsolarisation von 1957 zeigt.

Bei Krista Beinstein, die mit Prothesia 1, 2 und 3 aus der 2004 entstandenen Serie „Klitoride Extravaganz“, die ganz großen s/w-Formate an die Wände bringt, ist der Schritt von der Avantgarde der 1920er Jahre in die Gegenwart vollzogen. Sie profitiert natürlich – und das zeigt sie auch ganz offen in ihren Arrangements – von den Provokationen ihrer Vorläuferinnen in Kunst und Fotografie, von der gesellschaftlichen Liberalisierung und ganz klar vom Punk.

Rahmenprogramm Lesbian Legacies

18. Mai, 19 Uhr: Dr. Claudia Reiche im Gespräch mit Krista Beinstein (auf Deutsch);

22. Mai, 19 Uhr: Dr. Elisaveta Dvorakk (HU Berlin): Queere Sehnsüchte, fotografische Freiheiten – Annemarie Schwarzenbach im Spiegel der illustrierten Presse (auf Deutsch);

8. Juni, 19 Uhr: Dr. Thomas Love, (University of Missouri): „Egoism for Two: The Surrealist Muse through a Genderqueer Lens“ (in English)

Ihre gern maskierten, latexverliebten, extrem korsettierten und mit mächtigen künstlichen Brüsten und kleinen Minipimmeln ausgestatteten Frauen sind beeindruckende Erscheinungen. Der Infotext bei Scherben nennt sie die Grande Dame des sexpositiven Feminismus in Deutschland. Man sollte sie kennenlernen, es lohnt sich.

Unterirdische Laufstege

032c – eigentlich der Name eines Rottons aus der Pantone-Farbskala – ist ein englischsprachiges, international vertriebenes Hochglanzmagazin, das zweimal im Jahr erscheint und im Jahr 2000 von Jörg Koch in Berlin gegründet wurde. Von Beginn an war 032c als Projekt an den Schnittpunkten von Mode, Kunst und Politik gedacht. Seit 2016 verantwortet Maria Koch als Creative Director die 032c Ready-to-wear-Kollektion, inzwischen festgebuchtes Label auf der Pariser Modewoche. Und ein weiteres Spin off, der 032c-Workshop am Ku’damm, wird immer wieder zur 032c Gallery. Derzeit mit dem französischen Künstler Erwan Sene, der „Chutes and Signals“, seine erste Einzelausstellung in Deutschland zeigt.

Auch Erwan Sene ist ein Multitalent und arbeitet an den Schnittstellen von Musik, bildender Kunst und Mode. Seine Soundtracks für die Courrèges-Shows wurden über die Events hinaus bekannt und viel gespielt. In seiner Berliner Ausstellung, deren Titel mit ‚Schächte und Signale‘ übersetzt werden könnte, geht es dann um die unterirdischen Laufstege von Paris, die berühmten Égouts des Paris, das Kanalisationssystem der Stadt.

Blick in die Ausstellung „Chutes and Signals“ von Erwan Sene Foto: Courtesy the artist and 032c

Das transportiert er in seiner Kunst allerdings nicht einfach nach oben. Die Chutes bleiben untergründiges Wissen – um die Gefühlswelten der Égouts, ihre Rolle als Ort von Geheimgesellschaften und ihre politische wie gesellschaftliche Rolle in der von Revolutionen, robuster Modernisierung und Widerstand geprägten städtischen Geschichte.

Da und dort meint man dieses untergründige Wissen in den Raum hochdringen zu sehen, den der Künstler als eine Art Spielzeugversion eines Lunaparks konzipiert hat: mit skulpturalen Gemälden und Objekten, die Assoziationen zu elektrischen Schaltanlagen hervorrufen, mit Modellbauten sowie Wand- und Soundinstallationen.

tazplan

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Am deutlichsten scheint der Untergrund in den skulpturalen, mit Hochglanzfirnis überzogenen Gemälden an die Oberfläche zu kommen. Die Leinwände wirken wie eigenständige räumliche Objekte. Und obwohl Farbe, Formen und Lautsprecher samt elektrischem Anschluss reliefartig aufgeschichtet sind, scheint sich der Blick bei „Foul Burn Palimpsest 2“ definitiv in der Tiefe zu verlieren. Für „Telegraphe Reveil“, die kleine Modellsiedlung, die von einer riesigen Pariser Straßenlampe (Philips Ascola 11 STE von 1984) beschienen wird, hat Erwan Sene ein abstraktes Gemälde, das in einen tiefen Holzrahmen gebettet ist, von der Senkrechten in die Waagrechte gelegt. Die Abstraktion, auf der nun die Häuser stehen, zeichnet tatsächlich den Verlauf der Égouts nach.

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Brigitte Werneburg
war Filmredakteurin, Ressortleiterin der Kultur und zuletzt lange Jahre Kunstredakteurin der taz. Seit 2022 als freie Journalistin und Autorin tätig. Themen Kunst, Film, Design, Architektur, Mode, Kulturpolitik.
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