Die FDP im Thüringer Wahlkampf: Thomas Kemmerich hat einen Plan
Er stürzte das Land in die Krise, als er von der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Nun hofft Kemmerich, dass ihm die Geschichte nochmal nutzt.
Es ist mehr als vier Jahre her, dass der FDP-Politiker die Republik in eine mittelgroße politische Krise gestürzt hat, als er sich in Thüringen mit Stimmen der AfD und CDU zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Das Bild von Kemmerichs Handschlag mit dem rechtsradikalen AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke sorgte bundesweit für Entsetzen, Parteifreunde forderten seinen Rücktritt, Angela Merkel schaltete sich ein und ihre CDU drohte, in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein die Regierungen mit der FDP platzen zu lassen. Seine Bekanntheit von damals, da ist sich Kemmerich sicher, wird ihn wieder ins Parlament tragen.
„Vom Fernsehen kenne ich Sie ja“, sagt auch der Unternehmer Kampmann zur Begrüßung und streckt Kemmerich die Hand entgegen. Er ist Geschäftsführer der Systec-Gruppe aus Franken. Die Unternehmen der Gruppe bauen an mehreren Standorten in Deutschland etwa hochspezialisierte Fertigungsanlagen für den Einsatz in der Chemie- und Automobilindustrie. Hier in Thüringen gehören drei Unternehmen zu Systec, unter anderem eine Arnstadter Traditionsfirma.
Die Chemischen Maschinenbauwerke Rudisleben, Chema, galten zu DDR-Zeiten als ein Aushängeschild deutscher Ingenieurskunst. Wer hier arbeitete, konnte stolz darauf sein, weltweit nachgefragte Industrieanlagen zu bauen: Meerwasserentsalzungsanlagen, riesige Rührmaschinen für die Chemie-Industrie, Geräte zur Luft- und Gaszerlegung. 1989 beschäftigte das Unternehmen 2.200 Menschen – heute arbeiten hier noch 95 Angestellte.
Der Geschäftsführer macht es Kemmerich nicht leicht
Nach der Wende brach die Nachfrage aus der Sowjetunion und Osteuropa ein. Mit dem Verschwinden des größten Absatzmarktes des Unternehmens begann die Abwärtsspirale: Entlassungen, Ausgründungen gewinnversprechender Fertigungsfelder, Teilverkäufe und Übernahmen. 2002 wurde dann sogar der repräsentative Chema-Verwaltungsbau in Arnstadt, eine modernistische Konstruktion aus Stahlbeton und Glas, abgerissen.
„Vom guten Ruf können Sie nichts kaufen“, erzählt Geschäftsführer Kampmann dem Thüringer FDP-Kandidaten. Im Anlagenbau konkurriert die Chema mit internationalen Weltmarkt-Größen, das Geschäftsumfeld ist schwierig. Viele Unternehmen investieren lieber in den USA, die Energiepreise in Deutschland verteuern das Geschäft, die Fachkräfte fehlen.
Was die FDP da tun kann? Das wissen offenbar weder Kampmann noch Kemmerich so genau. „Man kann der Ampel alles vorwerfen, aber sie ist nicht für den Status quo verantwortlich“, sagt der Unternehmer. Kemmerich pflichtet ihm bei: „Ich will auch nicht alles auf die Ampel schieben.“ Er ergänzt: „Ich … die FDP ist ja auch Teil dessen.“
Die FDP und Thomas Kemmerich haben seit seinem Stunt von vor vier Jahren eine schwierige Beziehung. Die Bundespartei hat dem Thüringer Landesverband die Mittel gestrichen, seinen Wahlkampf finanziert Kemmerich aus Spenden. Mehr als eine halbe Million Euro seien bereits zusammengekommen, auf der Zielgeraden erhofft sich der Spitzenkandidat noch mal etwa 150.000 Euro. Für Kemmerich ist diese Ausgangslage „nicht schön“. Aus seiner Sicht sei es trotz der gegenseitigen Kritik auch eine Möglichkeit gewesen, zu sagen: „Okay, der Thüringer Verband bekommt seine Unterstützung, vielleicht mit angezogener Handbremse. Immerhin sind wir noch eine liberale Familie.“
Ein Handschlag im Parlament
Dabei macht sich Kemmerich das Bild des Außenseiters im Wahlkampf durchaus zu Nutzen. Der gebürtige Aachener gibt sich in Wild-West-Manier, wenn er wie immer mit Cowboystiefeln im Wahlkampf unterwegs ist. „Zurückgetreten, um Anlauf zu nehmen“, heißt es auf einem seiner Plakate: Es zeigt eine Szene nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten mit der kürzesten Amtsdauer in der Geschichte der Bundesrepublik. Anstatt Kemmerich zu gratulieren, warf Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow ihm damals einen Blumenstrauß vor die Füße. Die Blumen vor Kemmerichs Cowboystiefeln sind heute eines von drei Motiven auf den Thüringer FDP-Wahlplakaten.
Fragt man ihn heute nach der Zeit, antwortet Kemmerich mit einer Mischung aus viel Trotz und etwas Reue. „Ich wurde am 5. Februar mit einer Mehrheit des Thüringer Parlaments gewählt.“ Eine Stimme erhielt er damals im dritten Wahlgang mehr als der Langzeit-Ministerpräsident von der Linkspartei, Bodo Ramelow. „Die 45. Stimme war meine eigene“, sagt der FDP-Politiker heute. „Adenauer ist bekannterweise auch mit seiner eigenen Stimme zum Kanzler gewählt worden.“ Kemmerich bestreitet jedoch vehement, mit der AfD gemeinsame Sache gemacht zu haben. „Es gab keine Absprache mit der AfD, und die hat ja auch nie einer beweisen können. Dafür ist es ja eine geheime Wahl.“
Rückblick: Drei Tage vor der Abstimmung im Thüringer Parlament im Februar 2020 kündigte Kemmerich an, in einem möglichen dritten Wahlgang gegen Ramelow antreten zu wollen, trotz der Warnungen, damit möglicherweise auch AfDler hinter sich zu scharren. Im dritten Urnengang ist laut der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags nur noch eine einfache Mehrheit für die Wahl eines Ministerpräsidenten nötig. Neben Ramelow und Kemmerich gab es bei der Abstimmung auch noch einen Kandidaten der AfD: Den parteilosen Ingenieur Christoph Kindervater.
Ramelow hatte sich mit dem Urnengang im Parlament auf ein hochriskantes Spiel eingelassen und, wie sich später herausstellen sollte, ordentlich verzockt: Seine rot-rot-grüne Wunschkoalition verfügte mit 42 von 90 Abgeordneten dort über keine Mehrheit mehr. Seiner Hoffnung, spätestens im dritten Wahlgang noch ins Amt gehievt zu werden, machten AfD, CDU und FDP einen fetten Strich durch die Rechnung. Die AfD schickte ihren eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang mit null Stimmen wieder nach Hause und stimmte stattdessen für Thomas Kemmerich – und dieser nahm die Wahl an.
Der Aufschrei war groß. Kemmerich versuchte in den chaotischen Stunden nach seiner Wahl noch mit SPD und Grünen ins Gespräch zu kommen, was diese aber brüsk ablehnten. Auch die CDUler, mit deren Stimmen die Wahl Kemmerichs erst möglich wurde, gingen nun auf Distanz. FDP-Chef Christian Lindner reiste am Tag darauf nach Erfurt, um Kemmerich die Auswegslosigkeit seiner Lage deutlich zu machen. „Letztlich war es ja dann noch meine eigene Partei, die dann gesagt hat, wir machen da nicht mehr mit“, sagt Kemmerich heute.
FDP, AfD und CDU verzögern den Windkraftausbau
Der einzige Fehler, den der FDP-Mann heute sehen will, ist, dass er damals die Wahl direkt angenommen habe: „Ich habe immer eingeräumt, ich hätte mir mal zwei Stunden Bedenkzeit erbeten sollen, um manches, was danach passiert ist, zu eskomptieren.“ Aber, „ein Typ wie Thomas Kemmerich“, der die Chance habe, einen Linken abzulösen, sage erst mal: „Jetzt gucken wir mal, was wir daraus machen.“ Zudem habe ihn seine Wahl unvorbereitet getroffen. „Den Plan hatte ich tatsächlich nicht.“
Der Druck auf Kemmerich ist immens, Demonstranten stehen vor seinem Haus, in einem Interview mit dem MDR erklärte er, wie seine Kinder in der Schule drangsaliert werden. Einen Tag nach der Wahl erklärt er seinen Rücktritt und macht den Weg frei für Ramelow, der am 4. März 2020 erneut im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt wird. Seitdem ist die Linke in einer Minderheitsregierung mit SPD und Grünen in Thüringen auf wechselnde Mehrheiten im Parlament für seine Arbeit angewiesen.
Die unklaren Mehrheitsverhältnisse im Landtag weiß auch die FDP weiterhin für sich zu nutzen und kann dafür auch immer wieder auf die Stimmen von AfD und CDU zählen. Ende des vergangenen Jahres bringen die Liberalen so eine Änderung des Waldgesetzes durch das Parlament, mit der der Bau von Windrädern in dem Bundesland erschwert wird – hierfür wird der Waldbegriff weit definiert, weil auch gerodete Flächen mit einbezogen werden. Es mache ihm nichts aus, dass die AfD hierbei mitgestimmt habe, sagt Kemmerich heute. „Es war die parlamentarische Suche nach einer Mehrheit und für eine in meinen Augen vernünftige Idee.“
Er würde es auch nochmal als Ministerpräsident probieren
Beim Rundgang in der Chema in Arnstadt spielen diese Geschichten keine Rolle. Meist hört der FDP-Mann dem Firmenchef, dem Werksleiter und der Vertriebsleiterin zu, um dann an einigen Stellen einzuhaken. In diesem Fall liefert die umständliche Genehmigung von Schwerlasttransporten, über die sich der Werksleiter beschwert, das passende Stichwort für das FDP-Evergreen vom Bürokratieabbau. Kemmerich will sich des Themas annehmen.
Etwa 20 bis 25 Termine absolviert er derzeit pro Woche in dem Bundesland. An diesem Tag führt ihn das nächste Treffen zu einem bekennenden FDP-Wähler, der am Kreuz der Autobahnen 4 und 73, wenige Fahrminuten von Erfurt, eine Tankstelle betreibt. Marcel Geber bringt das Problem der Thüringer Gemengelage so auf den Punkt: Die Parteien der demokratischen Mitte müssten zu viele Kompromisse eingehen, um miteinander zu regieren, um die AfD zu verhindern. „Es ist kaum anders möglich, als mit allen anderen ins Bett zu gehen, um den Teufel zu vermeiden.“
Kemmerich sieht in dieser Ausgangslage zumindest für den Wahlkampf eine Chance. „Wenn ich vor so einem Bauchladen an politischem Angebot stehe, dann greife ich auch da zu einer bekannten Marke.“ Neulich erst sei er in Apolda auf einem Fest gewesen, dem Biersommer. „Der ein oder andere hält dann an und fragt, kann ich mal ein Selfie machen, das will ich meiner Mutter zeigen. Auf diesen Faktor setzen wir“, sagt Kemmerich.
Es wäre durchaus ironisch, sollte sich aus der kürzesten Amtszeit als Ministerpräsident dieses Nachspiel für den FDP-Mann ergeben. Sollte er es nochmal in den Landtag schaffen, würde er auch wieder als Ministerpräsident kandidieren?
„Ich behalte mir vor, in jedes Parlament, in das ich gewählt wäre, und ich gehe davon aus, dass ich im Thüringer Landtag wieder mit der FDP Platz nehme, dass wir dort auch kandidieren“, sagt Kemmerich. Doch er schiebt hinterher: „Tatsächlich gilt Vorsicht an der Bahnsteigkante, man muss sich dann die Situation viel genauer anschauen. Da sind aber alle vorgewarnt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut