Deutschunterricht in Polen: Eine Minderheit in Geiselhaft
Deutschsprachige Kinder in Polen sollen weniger Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten. Das soll Druck machen auf die deutsche Bildungspolitik.
Der Grund für Fabritius’ Reise: Polens Bildungsminister Przemysław Czarnek hat Pläne erstellt, nach denen rund 40.000 Kinder der deutschen Minderheit in Polen weniger Deutschunterricht als bisher erhalten – als Strafe dafür, dass es in Deutschland für polnische Kinder angeblich nicht genügend Polnischunterricht gebe. Das Abgeordnetenhaus in Warschau beschloss die Kürzung im Haushaltsgesetz schon im Dezember 2021 mit den Stimmen der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS).
Anfang Februar publizierte Czarnek die Ausführungsbestimmungen im Gesetzblatt. Ab dem 1. September, wenn in Polen das neue Schuljahr beginnt, soll es demnach für die betroffenen Kinder statt drei Stunden muttersprachlichen Unterrichts pro Woche nur mehr eine Stunde geben.
Das eingesparte Geld soll dann nach Deutschland transferiert werden, um dort den Polnischunterricht für Kinder von Exilpolen und polnischen Arbeitsmigranten zu fördern. In diesem Jahr sollen dies für die Monate ab September knapp zehn Millionen Euro sein, im nächsten dann rund 26 Millionen Euro.
Offensichtliche Rechenfehler
Zu den Gründen der Umwidmung sagt Bildungsminister Czarnek: „Es kann nicht sein, dass wir in Polen 236 Millionen Złoty [umgerechnet knapp 52 Millionen Euro] für die deutsche Minderheit und die deutsche Sprache zahlen, während in Deutschland, wo über zwei Millionen Polen leben, die Bundesregierung keinen einzigen Euro für die polnische Minderheit ausgibt.“
Das Problem an Czarneks Rechnung: Bildung ist in Deutschland Ländersache. Dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) keinen Euro für den Sprachunterricht an den Schulen ausgibt, ist irreführend – tatsächlich übersteigen die Ausgaben der Bundesländer für Polnischunterricht das, was Polen umgekehrt für Deutschunterricht zahlt, um ein Vielfaches. Nach Angaben der Bundesregierung belief sich die Summe 2020 allein auf gut 200 Millionen Euro.
Nicht der einzige problematische Vergleich, den der polnische Bildungsminister zieht: Denn in Deutschland gibt es zwar eine Minderheit der Dänen, Friesen, Sorben sowie Sinti und Roma, aber keine anerkannte Minderheit der Polen.
Menschen mit polnischen Wurzeln in Deutschland – die sogenannte Polonia – wurde aber schon im Vertrag über gute Nachbarschaft von 1991 rechtlich weitgehend gleichgestellt mit der deutschen Minderheit in Polen, samt Anspruch auf herkunftssprachlichen Polnischunterricht in Deutschland. Zu den zwei Millionen, die Czarnek nennt, gehören allerdings auch die deutschen Spätaussiedler, die meist kein Interesse an Polnischunterricht haben.
Alles Nazis
Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es eine polnische Minderheit im Deutschen Reich. Sie lebte vor allem in Ober- und Niederschlesien, an der deutsch-polnischen Grenze oder in Danzig, in Gegenden und Orten also, die vor Jahrhunderten einmal zum polnischen Staat gehörten. Nach 1945 verschoben die Alliierten die deutsch-polnische Grenze nach Westen. Die in diesem Gebiet lebenden Deutschen flüchteten, wurden vertrieben oder blieben dort wohnen – als nunmehr deutsche Minderheit in Polen.
Nach Angaben des polnischen Innenministeriums nehmen 40.000 Kinder der deutschen Minderheit am muttersprachlichen Deutschunterricht teil. Dazu kommen noch einmal rund 10.000 Kinder, deren Eltern sich zwar nicht mit der deutschen Minderheit identifizieren, die aber die zusätzlichen Deutschstunden neben dem normalen Fremdsprachenunterricht für ihre Kinder in Anspruch nehmen möchten.
Die Kollektivstrafe für diese Kinder geht über eine jahrelange germanophobe Hetzkampagne hinaus, die die PiS und ihr nahestehenden Medien gezielt betreiben. Vor Kurzem erst behauptete PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, dass die Ampelkoalition in Berlin die Europäische Union in ein „Viertes Reich“ verwandeln wolle, das von Berlin aus regiert werden solle.
In Polens Straßen hängen Propagandaplakate, die Nazigrößen neben heutigen Politikern in Deutschland zeigen und den Eindruck erwecken, als seien grundsätzlich alle Deutschen, egal welcher Generation oder politischen Überzeugung, immer auch Naziverbrecher.
Wird als nächstes Hebräischunterricht beschränkt?
Zum Alltag deutscher Polen-Korrespondenten, aber auch polnischer Staatsbürger, die ein gutes Verhältnis zu Deutschland haben, gehören seit Jahren wüste Beleidigungen und sogar Todesdrohungen. Nun aber spricht Polens Bildungsminister mit Rückendeckung des polnischen Parlaments ein Bildungsverbot für einen Teil der polnischen Gesellschaft aus.
Das hat Signalwirkung auf die anderen acht nationalen und vier ethnischen Minderheiten in Polen. Womöglich wird als nächstes der Hebräischunterricht für jüdische Kinder beschränkt, der Litauisch-, Ukrainisch- oder Belarussisch-Unterricht für die anderen Minderheiten. Große Angst vor einem Sprachverbot haben auch die im Großraum Danzig lebenden Kaschuben, ein westslawisches Volk.
Und auch die, die von dem Verbot profitieren sollen – die polnischstämmige Bevölkerung in Deutschland –, sind ganz und gar nicht begeistert. „Wir, die neue Generation engagierter Europäer mit polnischem Pass, sind mit der Politisierung der Polonia und ihrer Nutzung für innenpolitische Spiele nicht einverstanden“, heißt es in der öffentlichen Erklärung des Polnischen Bundesnetzwerks Partizipation und Soziales vom 15. Dezember 2021. Eine „Unterstützung auf Kosten der Marginalisierung anderer“ lehnt das Bündnis entschieden ab.
Ähnliche Töne kommen auch vom Beauftragten der Bundesregierung, Fabritius: Die Bundesregierung sei „überrascht worden von dieser Entscheidung“, sagte Fabritius vor seiner Reise nach Warschau. Die Vorwürfe aus Warschau wies er entschieden zurück. So habe sich die Zahl der Polnischlernenden an deutschen Schulen seit 1991 um das 13-Fache erhöht und seit 2005 noch einmal fast verdreifacht. Rund 14.000 Kinder der Polonia an weiterführenden Schulen hätten zuletzt vom Polnischunterricht profitiert.
Ein Ende vor Gericht?
Hinzu käme noch die bilinguale Früherziehung in Kitas sowie der Unterricht an Grundschulen im Grenzgebiet. Der deutschen Minderheit sagte er im Namen der Bundesregierung Unterstützung zu.
Auch die wehrt sich gegen die Pläne der PiS. Mit der Internet-Aktion „#NiemaMowy #Sprachlos“ protestieren Jugendliche und junge Erwachsene, die im Bund der Jugend der deutschen Minderheit organisiert sind, gegen die Kürzung. Sie schauen in die Kamera und halten sich dabei die Hand vor den Mund. Die Eltern starteten eine Unterschriftenaktion im Netz, die in nur wenigen Tagen von über 8.000 Personen unterzeichnet wurde. Mit der Petition wollen die Eltern erreichen, dass das polnische Parlament die Mittelkürzung für den muttersprachlichen Deutschunterricht im Haushalt 2022 zurücknimmt.
Robert Galla, der einzige Abgeordnete der deutschen Minderheit im polnischen Parlament, ist entsetzt über die antidemokratische Politik der PiS-Regierung. Seit dem politischen Wendejahr 1990/1991 hätten sich die deutsch-polnischen Beziehungen positiv entwickelt, Vertreter der Polonia in Deutschland, der deutschen Minderheit in Polen und Beamte der beiden Regierungen hätten regelmäßig gemeinsam über aktuelle Probleme beraten. „In der kommunistischen Zeit war es im Oppelner Schlesien verboten, Deutsch zu lernen. Aufgrund der Germanophobie von Janusz Kowalski kehren wir jetzt dahin zurück“, sagt Galla in einem Interview mit dem Rechercheportal Oko.Press.
Kowalski, der ebenfalls aus dem Oppelner Schlesien stammt, ist ein Abgeordneter der PiS-Koalitionspartei Solidarisches Polen und bekannt für seine Attacken auf Deutschland und die deutsche Minderheit in Polen. Er war es, der sich die Strafe für die deutschlernenden Kinder ausdachte und mit dieser Idee nicht nur den polnischen Bildungsminister, sondern auch die Mehrheit der polnischen Abgeordneten überzeugen konnte.
Doch inzwischen haben mehrere Oppositionspolitiker und Minderheitenaktivisten Beschwerde beim Europarat gegen Polen eingelegt. Sollte die PiS-Regierung keinen Rückzieher machen, wird es wohl wieder einen Prozess vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit vorhersehbarem Urteil geben. Ob das die polnische Regierung von ihrem Kurs abbringt, darf jedoch bezweifelt werden.
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