Deutsch-polnisches Schulbuch: Länderübergreifender Flop
Ein deutsch-polnisches Schulbuch sollte ein Prestigeprojekt mit Ausstrahlung in die ganze Welt werden. Doch auf beiden Seiten fehlt Begeisterung.
Empfohlener externer Inhalt
„Wir haben seit Erscheinen des letzten Bandes im Jahre 2020 gerade mal 1.000 Exemplare verkauft“, sagt Waldemar Czerniszewski, der Direktor des renommierten polnischen Schulbuchverlages WSiP. Für den Verlag sei das eine Katastrophe: In der Buchreihe steckten jahrelange Vorarbeiten, die Entwicklung eines neuen didaktischen Zugangs und hohe Investitionskosten.
Dass das Schulbuch kaum angenommen wird, liegt auch an der polnischen Regierung: Ein vom Bildungsministerium beauftragter Historiker bewertete den letzten Band negativ. Das könnte schwere Folgen haben: Denn ohne die Zulassung aller acht Einzelbände zum Schulunterricht bekommt auch das Gesamtwerk in Polen keine Zulassungsnummer.
Das umstrittene jüngste Buch der Reihe behandelt die Geschichte vom Zweiten Weltkrieg bis zur aktuellen Situation in Europa und der ganzen Welt. Es soll Achtklässler in Deutschland wie in Polen in die Lage versetzen, die Bedeutung der Teilungen Polens wie Deutschlands zu begreifen – damals und in ihren Auswirkungen bis heute. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Was bedeutet eigentlich die „Überwindung der Teilung“? Haben die Polen auch eine „Wiedervereinigung“ erlebt, möglicherweise sogar mehrere? Immerhin war Polen 123 Jahre lang durch Russland, Österreich und Preußen dreigeteilt.
Bayern zeigt die Rote Karte
Deutlich wird dabei, dass es eben nicht die „eine Geschichte“ gibt: Je nach Perspektive und Fragestellung stellt sie sich anders dar. Deutsche Kinder lernen, warum die Kriegszeit in Polen oft „vierte Teilung“ genannt wird, während polnische verstehen, dass die „deutsche Teilung“ anders als im Falle Polens kein Verschwinden des Staates von der Landkarte Europas zur Folge hatte, sondern die Entstehung von zwei unabhängigen Staaten.
Ähnlich ist es mit dem Begriff der „okupacja“ oder „Besatzung“. Im Falle Polens war die deutsch-sowjetische Besatzungszeit 1939 bis 1945 lebensbedrohlich, in Deutschland leitete die Besatzung ab 1945 durch Siegermächte eine Zeit des Friedens und Neuanfangs ein. Die jeweiligen Perspektiven bringen also völlig verschiedene Erfahrungen und Interpretationen mit sich.
In Deutschland ist „Europa. Unsere Geschichte“ zwar zum Schulunterricht zugelassen – der letzte Band bekam sogar den Preis als „bestes Schulbuch 2021 in der Kategorie Gesellschaft“. Doch auch hier hat ein Bildungsministerium dem Schulbuch die Rote Karte gezeigt – Bayern. Im Lehrplan sei neben europäischer und Weltgeschichte auch diejenige Bayerns vorgesehen, so die Begründung. Diese komme aber im Europa-Geschichtsbuch nicht vor. Die deutsch-polnische Schulbuchkommission und der deutsche Schulbuchverlag Eduversum hätten deshalb Beihefte zur Geschichte Bayerns entwickeln müssen So wurde dies auch in Polen gehandhabt. Dort gibt es „nationale Beihefte“ zum gemeinsamen Schulbuch.
Doch auch in anderen Bundesländern habe es „große Bauchschmerzen“ bei der Zulassung des deutsch-polnischen Schulbuches gegeben, bekennt der Gießener Geschichtsprofessor Hans-Jürgen Bömelburg, der seit 2014 deutscher Co-Vorsitzender der deutsch-polnischen Schulbuchkommission ist. Möglicherweise bestand die Sorge, dass am Ende nicht nur für Bayern, sondern für alle 16 Bundesländer Beihefte hätten entwickelt werden müssen – eine Mammutaufgabe, die zeitlich aufwändig und finanziell kostspielig wäre. Im Endeffekt wählen nun auch in Deutschland nur wenige Lehrer und Lehrerinnen das Schulbuch für ihren Unterricht.
Brandbrief an Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier
Ein Herzensanliegen ist das europäische Schulbuch bis heute für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Als 2006 der erste Band eines deutsch-französischen Schulbuches vorgestellt wurde, regte er in seiner damaligen Funktion als Außenminister und gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen Radosław Sikorski an, als nächstes Projekt ein deutsch-polnisches Schulbuch zu entwickeln.
Die Autoren – Polen und Deutsche – sollten künftige Generationen dazu befähigen, die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Neben notwendigem Faktenwissen sollte das neue Schulbuch eine gewisse Perspektivenvielfalt vermitteln und Empathie mit den jeweils anderen wecken.
Der offizielle Startschuss fiel 2008. Die deutsch-polnische Schulbuchkommission übernahm das Projekt. Sie ließ die deutschen und polnischen Geschichtslehrpläne für die Klassen 5 bis 8 in die jeweils andere Sprache übersetzen und entwickelte zusätzliche Empfehlungen für alle Autoren und Autorinnen des künftigen Lehrbuchs. 2016 erschien der erste Band des Schulbuchs, dann Jahr für Jahr die weiteren. Wissenschaftler und Politiker stellten sie feierlich der Öffentlichkeit vor. Auch Steinmeier hielt die ersten Bände begeistert in die Kameras. Alles schien in bester Ordnung zu sein.
Doch dann kam das Jahr 2020. Der letzte Band wurde den Gutachtern ausgehändigt – und bekam in Polen die negative Beurteilung. Daraufhin ernannte Bildungsminister Przemysław Czarnek einen weiteren Gutachter, dessen Urteil dann bindend sein sollte. Es war erneut negativ. „Für uns kam das völlig überraschend“, erzählt Andrzej Dusiewicz, Projektleiter von „Europa. Unsere Geschichte“ im Schulbuchverlag WSiP. „Wir haben jedes einzelne Argument des Gutachters genau unter die Lupe genommen und gemeinsam mit der Schulbuchkommission ein detailliertes Beschwerdeschreiben an das Ministerium geschickt. Ohne Erfolg.“
Nichts von Problemen mitbekommen
Verlagschef Czerniszewski trommelt mit seinen Fingern nervös auf die Tischplatte in seinem Büro. „Auf dem Spiel stand nicht nur der letzte Band! Sollte der Minister seine Unterschrift unter das letzte Gutachten setzen, wäre das auch das Aus für die gesamte Schulbuchreihe gewesen, der ja dann der letzte Band gefehlt hätte.“
Er trinkt einen Schluck Espresso und sagt: „Wir haben dann den letzten Band aus dem Zulassungsverfahren zurückgezogen. Damit können wir den Band zu einem späteren Zeitpunkt und vielleicht – wenn der deutsche Eduversum-Verlag mitzieht – aktualisiert um ein Kapitel über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erneut einreichen.“
Projektleiter Dusiewicz ergänzt: „Insgesamt hat das Projekt allein in Polen rund 15 Millionen Zloty gekostet, also über 3 Millionen Euro. Die vielen Reisen der Autoren, Honorare für rund 40 Übersetzer und Dolmetscher, dann die meist einwöchigen Hotelübernachtungen – das haben der WSiP-Verlag bezahlt und die Ministerien für Bildung, für Auswärtige Politik und für Kultur und Nationales Erbe.“
Vom Streit um das „Leuchtturmprojekt“ scheinen Steinmeier und sein Büro nichts mitbekommen zu haben. Um die Buchreihe noch zu retten, veröffentlichten die Professoren Robert Traba aus Warschau und Michael G. Müller aus Halle-Wittenberg, die ehemaligen Co-Vorsitzenden der Schulbuchkommission, Ende 2022 einen Brandbrief an die Staatspräsidenten Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier.
Bildungsminister wollte nicht auf Verfahren verzichten
Während Duda bis heute schweigt, antwortete das Bundespräsidialamt im Februar, Steinmeier wolle alles in seiner Macht Stehende tun, um den letzten Band und damit auch das Gesamtwerk „hochrangig“ und öffentlich zu präsentieren. Auf Nachfrage der taz Mitte Mai – in der Zwischenzeit hatte sich nichts getan – schreibt das Amt: „Dem Bundespräsidenten liegt das Projekt weiterhin sehr am Herzen. Er spricht es regelmäßig in seinen politischen Gesprächen an.“
Ein schwerwiegendes Problem für die Zukunft des Schulbuchs in Polen ist das Zulassungsverfahren. Obwohl jeder Band vom Expertenrat der deutsch-polnischen Kommission und vom Ministerium geprüft wurde, wollte Polens Bildungsminister nicht auf das übliche Verfahren verzichten, das jedes Schulbuch durchlaufen muss. Das Problem dabei: Die Gutachter kennen meist weder die politische Genese des Buches noch die deutschen und polnischen Lehrpläne, die in Übereinstimmung zu bringen waren, geschweige denn die rund 150 Seiten mit Empfehlungen der Schulbuchkommission für die einzelnen Texte.
Dass die ersten Bände dieses Verfahren mehr oder weniger glatt überstanden, ist auf den anfänglichen politischen Willen zurückzuführen. Doch die politische Stimmung in Polen ist heute eine andere. Die nationalpopulistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) setzt für die Parlamentswahl im Herbst auf die antideutsche Karte. Das war bereits vor der Präsidentschaftswahl 2020 deutlich zu spüren. Dass Polens Bildungsminister dann ausgerechnet den Posener Professor Grzegorz Kucharczyk mit dem endgültigen Gutachten betraute, einen Mitarbeiter des regierungsnahen Pilecki-Instituts und regelmäßiger Kommentator im rechtsklerikalen Radio Maria, ließ das Schlimmste befürchten.
Zurückhaltung mit der Kritik
Und tatsächlich sind seine „Korrekturen“ grotesk: Die Hauptillustration für das Kapitel „Zweiter Weltkrieg“ sei fehl am Platze, da mit den Juden auf dem Weg vom Warschauer Ghetto ins Vernichtungslager Treblinka suggeriert werde, dass der Holocaust das Hauptverbrechen der Deutschen im Krieg gewesen sei. Man solle die Leiden der verschiedenen Opfer nicht werten. Außerdem solle nicht die Berliner Mauer das Symbol für das Ende der Teilung in West- und Osteuropa sein, sondern die Arbeiterstreiks 1980 auf der Danziger Werft. Eventuell könne man beide Bilder zeigen.
Die Kommission unter ihren neuen Vorsitzenden Hans-Jürgen Bömelburg aus Gießen und Violetta Julkowska aus Posen hält sich mit Kritik an der Blockadehaltung der polnischen Verantwortlichen zurück. Sie erarbeitet gemeinsam mit dem Georg-Eckert-Institut in Braunschweig, dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften sowie den polnischen Lehrer-Arbeitskreisen Online-Module zum Schulbuch und macht in Seminaren Werbung für die gemeinsame Buchreihe.
Sollte Polens Bildungsminister keine Idee entwickeln, wie aus dem selbst verschuldeten Schulbuch-Flop doch noch ein Erfolg werden kann, wird der „Leuchtturm“ am Ende wohl nur in Deutschland stehen – noch dazu mitfinanziert von drei polnischen Ministerien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen