Deutsche Haltung zu Nahost: Paternalistischer Philosemitismus
Kritik am Staat Israel wird schnell mit Antisemitismus gleichgesetzt. Statt vernünftiger Argumente findet man eine Kultur des Vermeidens.
D eutschlands Juden und Jüdinnen haben wieder Angst um ihr Leben: eine zutiefst beschämende Tatsache, hat das Land doch alles darangesetzt, seine faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten und den Anti-Antisemitismus und die bedingungslose Unterstützung Israels zur Staatsräson zu machen.
in New York geboren und seit 1984 in Berlin beheimatet, ist Schriftstellerin und derzeit Grazer Stadtschreiberin. Sie ist doppelte Staatsbürgerin.
Doch einigen Juden und Jüdinnen geht es nicht um das vielerorts beklagte Fehlen der Empathie angesichts der brutalen Attacken vom 7. Oktober. In einem offenen Brief beschrieben mehr als hundert in Deutschland lebende jüdische SchriftstellerInnen, JournalistInnenen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen ein politisches Klima, in dem jede Form des Mitleids mit palästinensischen Zivilisten mit der Unterstützung von Hamas-Terroristen gleichgesetzt wird. Die Folgen sind Verstöße gegen die Bürgerrechte und das Canceln kultureller Veranstaltungen und die Gefährdung des demokratischen Rechts auf Dissens.
Dass Deutschland hier einen paternalistischen Philosemitismus praktiziert, indem es meint, andersdenkende Juden belehren zu müssen über ihr Jüdischsein und über die einzige korrekte Haltung in diesem Krieg, wirkt besonders absurd, wenn es jüdische MitbürgerInnen sind, die diese unbequeme Beobachtung aussprechen müssen. Kritik am Staat Israel wird schnell mit Antisemitismus gleichgesetzt; statt vernünftiger Argumente findet man eine Kultur des Vermeidens, ein synchronisiert wirkendes Schweigen.
Deutschlands bedingungslose Unterstützung Israels halte das Land davon ab, „das Töten von Zivilisten in Gaza zu verurteilen, während es sich erlaubt, die Bedrohung anders denkender Juden zu ignorieren, in Deutschland wie auch in Israel“, wie die deutsch-amerikanische Autorin Deborah Feldman schreibt. Viele der Menschen, die am 7. Oktober ermordet wurden, hatten sich einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts verpflichtet. Doch sie seien, so Feldman, zugunsten der radikalen Siedler in der West Bank nicht geschützt worden: „Für viele liberale Israelis ist das Versprechen des Staats, Sicherheit für alle Juden zu gewährleisten, entlarvt worden als selektiv und an Bedingungen geknüpft“.
Die Lage ist aufgeheizt, doch es müsste möglich sein, einige Tatsachen gleichzeitig denken und aussprechen zu dürfen: das Recht Israels, sich zu verteidigen; dass nach Angaben des der Hamas unterstehenden Gesundheitsministeriums in Gaza bereits über 14.000 Zivilisten getötet worden seien; der Horror der von Hamas verübten Gräueltaten; die Vertreibung von knapp zwei Millionen Menschen und die Zerstörung ihrer Häuser und Städte. Stattdessen wird in Gut und Böse, Schwarz und Weiß argumentiert.
Das Verhältnis Deutschlands zu seiner Vergangenheit ist „kompliziert“, heißt es: es gibt auch ein Trauma des Täters, das in einem langen, schmerzhaften Prozess aufgearbeitet werden muss. Das Ergebnis ist beunruhigend: Die zutiefst ausländerfeindliche AfD feierte neulich einen Sieg bei einer Landratswahl in Südthüringen, womit erstmals seit 1949 eine rechtsextreme Partei an den Hebeln der Macht sitzt – eine Entwicklung, die in den deutschen Medien teilweise weniger Empörung ausgelöst hat als das kürzlich erfolgte Bekenntnis eines sich bisher als jüdisch ausgebenden Autors, dass er doch nicht jüdischer Herkunft sei.
Fetischisierung von Jüdischsein?
Über die letzte documenta-Ausstellung und die propalästinensische BDS-Kampagne, die von einem Bundestagsbeschluss 2019 als antisemitisch eingestuft wurde, weil sie die Existenz Israels in Frage stelle, wurde heftig debattiert, doch man sucht vergeblich nach einer öffentlichen Diskussion, die sich mit der konkreten Realität Israels oder mit der Zukunft seiner Bewohner auseinandersetzt.
Deutschland, so Feldman, fetischisiere das Jüdischsein; tatsächlich kann dem Land eine zwanghafte Beziehung zur eigenen Vergangenheit attestiert werden: Ein immer noch nicht verarbeitetes Ressentiment wird auf Randgruppen projiziert und die muslimischen MitbürgerInnen beispielsweise für den wachsenden Antisemitismus verantwortlich gemacht. Doch die Statistiken belegen, dass Judenhass kein reiner Import ist: Von den antisemitischen Vorfällen aus 2022 sind laut Bundespolizei 84 Prozent von deutschen Rechtsextremen verübt worden.
Unlängst schrieb der preisgekrönte israelische Journalist Haggai Matar, die einzige Möglichkeit, die Palästinenser daran zu hindern, sich gegen ihre Unterdrücker aufzubegehren, bestehe darin, die Unterdrückung und die Verweigerung ihrer Rechte zu beenden. „Es wird Gerechtigkeit, Sicherheit und eine lebenswürdige Zukunft für uns alle geben oder für keinen von uns“. Es wird zunehmend klar, gerade unter Israelis, dass es keine „Ausrottung“ von Terror geben kann, wenn die Ursachen dieses Terrors nicht beseitigt werden.
Kein Blankoscheck
„Wer sich für unschuldige Kinder in Flüchtlingslagern einsetzt, wer sich einbringt für universelle Menschenrechte und damit für die Lehren, die aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden mussten, der ist kein Antisemit. Jede andere Behauptung ist Gaslighting“, so Feldman. In Haaretz warnt die israelische Journalistin Amira Hass davor, einem verwundeten, verletzten Israel einen „Blankoscheck [zu] geben, zum hemmungslosen Töten, Zerstören und Pulverisieren“.
Vielleicht kann Deutschland im Laufe dieser Tragödie erkennen, dass seine Verantwortung aus dem Holocaust – die größte Lehre seiner entsetzlichen Geschichte – darin besteht, den Mechanismen der Dehumanisierung, der Diskriminierung und der Gewalt gegenüber allen marginalisierten Gruppen entgegenzuwirken, wo immer sie praktiziert werden.
Dass ein Vizekanzler mit einer jungen Schriftstellerin im Fernsehen diskutiert, bei Markus Lanz mit Deborah Feldman – das Äquivalent in den USA wäre in etwa Kamala Harris, die mit Ta-Nehisi Coates debattieren würde, eine angesichts der hermetischen Kreise der Macht nahezu unmögliche Vorstellung –, lässt hoffen.
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