Der sonntaz-Streit: „Im Land herrscht Pogromstimmung“
Russlands Präsident Putin demonstriert Macht und macht sich damit beim Westen unbeliebt. Ob er seinem Land gut tut? Russen und Russinnen diskutieren.
Wladimir Putin war seit langem nicht mehr so beliebt bei seinem Volk wie gerade. Seine Umfragewerte schossen nach der erfolgreichen Übernahme der Krim in die Höhe, obwohl sich Russland damit außenpolitisch völlig isolierte. Ausgeschlossen von G8, tagen die nun sieben wichtigsten Industrienationen ohne Russland. EU und USA diskutieren über weitere Sanktionen. Was halten Russinnen und Russen von dieser Entwicklung? Glauben Sie, dass Putin gut ist für ihr Land?
„Russland ist Sieger: In der Zahl der alkoholabhängigen und obdachlosen Kinder, der Schwangerschaftsabbrüche, der Korruption...“, schreibt Karina Kharebova, eine 17-jährige Schülerin aus dem sibirischen Krasnojarsk. Mit seinen „imperialistischen Ambitionen“ und „totalitaristischen Träumen“ habe Putin das Land erobert und danach zerstört. Die Russen hätten nichts getan, um ihn zu stoppen, schreibt Kharebova. „Der Maidan hat uns gezeigt, wie die Leute für ihre Rechte und Freiheit kämpfen, wie stark und patriotisch sie sind! Ich glaube, dass die ukrainische Revolution auch in meiner Heimat eine Tür geöffnet hat.“
Die russische Historikerin und Menschenrechtlerin Irina Sherbakova befürchtet das Gegenteil: „Ich sehe jetzt eine deutliche Gefahr, dass eine neue Mauer entsteht, um Russland herum.“ Sie befürchtet, dass „das Land sich nach Jahrzehnten wieder als eine belagerte, von Feinden umringte Festung sieht“, sich weiter von westlichen Werten abschotte und damit ihr und ihren Kindern „die Hoffnung nimmt, in einem demokratischen, freien Russland zu leben“.
Dabei sei Putin im Jahr 2000 mit dem Versprechen an die Macht gekommen eine „Diktatur des Gesetzes“ zu schaffen, schreibt Nikolaj Plotnikov. Der russische Philosoph, der an der Universität Bochum lehrt, beobachtet jedoch das Gegenteil: „Es wurde eine Diktatur installiert, die das Gesetz nur als Herrschaftsinstrument nutzt, um die Interessen des an die Macht gekommenen Clans durchzusetzen.“ Schon die Wahlen seinen eine Farce, Opposition und Andersdenkende würden ausgeschaltet oder von Putins Propaganda erdrückt.
Chinas berühmtester Künstler darf sein Land nicht verlassen, aber seine Kunst reist um die Welt. Wie Ai Weiwei die taz-Titelseite gestaltet, sehen Sie in der taz.am wochenende vom 22./23. März 2014 . Außerdem: Welchen Wert hat das Geheimnis in Zeiten von NSA? Mit Geheimnis-Psychotest: Sind Sie eher Angela Merkel oder Hans-Peter Friedrich? Und: Wie ist die Lage in Zentralafrika, ein Jahr nachdem muslimische Rebellen die Macht übernommen haben? Ein Besuch in Bangui. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
„Wladimir Wladimirowitsch Putin ist der Retter Russlands“, hält die Rentnerin Tatjana Arischkewitsch aus Moskau aller Kritik entgegen. „Putin ist nicht nur ein würdiger Politiker, er ist auch ein würdiger Mensch, der Verehrung verdient.“ Er hätte mit der Annexion der Krim endlich der Welt die Stärke Russlands bewiesen. Arischkewitsch vertritt die Meinung vieler Russen, die das Gefühl haben, dass ihr Land in den letzten Jahren vom Westen erniedrigt und nicht Ernst genommen wurde. In ihren Augen war diese Machtdemonstration Putins längst überfällig.
„Es ist furchtbar, wenn intelligente, nette Leute auf einmal beginnen, in einer patriotischen Ekstase zu zappeln und von der Dominanz Russlands in der Welt schwärmen,“ sagt hingegen taz-Leser Ilia Rykin. „Ich habe mit einigen Freunden und Verwandten gestritten, ja, Beziehungen abgebrochen. Das geht allen russischsprachigen Menschen so – die Barrikaden vom Maidan-Platz verlaufen quer durch die Freundschaften und Familien von Ukrainern und Russen.“
Im Land herrsche Pogromstimmung, so Rykin, „Die putinsche Propaganda verkündet, dass sich Russland von den Knien erhebt, tatsächlich aber kriecht die Sowjetunion aus dem Sarg. Ein diffuses Feindbild „Der Westen“ wird aufgebaut: homosexuell, dekadent, pervers.“ Westliche Medien sehen eine böse autokratische Regierung, unter der ein freundliches Volk leide. „Das ist gut gemeint“, sagt Rykin, aber die Stimmung im Lande werde komplett verkannt. „Die russische Regierung ist insofern demokratisch, als dass sie der Stimmung des Volkes entspricht.“
Die Streitfrage diskutieren vier weitere Russinnen und Russen: Timur Galimow aus Jekaterinburg, Lehrerin Lara Völker aus Krasnojarsk, Wladimir Truschew, ein Bänker aus Mokau und Ewgenija Popowa, Mitarbeiterin des russischen Fernsehsender STS – in der taz. am wochenende vom 29./30.3.2014.
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