Der Landkreis, wo alles begann: Heinsberg geht viral
Diskriminierung, Angst und Hilflosigkeit weichen Hoffnung: In Heinsberg startete das Virus, dort zeichnet sich der Weg für uns alle ab.
L ange kannte man vom Kreis Heinsberg höchstens die Awacs-Airbase der Nato in Geilenkirchen-Teveren oder Orte wie Holzweiler und Kuckum, wo die Menschen dem Braunkohletagebau Garzweiler II zu trotzen versuchen. Vielleicht wussten manche noch vom Selfkant, Deutschlands westlichstem Zipfel an der niederländischen Grenze.
Doch dann, am 25. Februar, schaffte es der Weiler Gangelt-Langbroich-Harzelt, gleich bei dem 600 Einwohner zählenden Schierwaldenrath gelegen, zu maximaler Prominenz. Von hier stammte der erste Infizierte. In Gangelt steht, neben der Freiwilligen Feuerwehr, ein unscheinbarer Flachbau, rotbraun geklinkert: die Bürgerhalle. Sie bietet gut 300 Leuten Platz, jedenfalls dann, wenn man die Menschen eng zusammensetzt.
So war es auch bei der karnevalistischen Kappensitzung am Abend des 15. Februar. Begeistert schrieb die Lokalzeitung von „unglaublichen Szenen“ der bierseligen Feier: „… die Quetschbüllsänger aus Hastenrath legten stimmungsmäßig weiter drauf, die Bürgerhalle tobte regelrecht, Langbroich war nicht mehr zu bremsen.“ Leider galt das auch für die vielen ungeladenen Gäste namens Sars-CoV-2.
Auf der Bühne hatte auch Immobilienmakler Bernd B. (47) aus Gangelt-Birgden mit seinem Männerballett getanzt. Er war ahnungslos coronainfiziert. Ungezählte steckten sich an und gaben das Virus flugs weiter: Da nahm die Epidemie mit den Menschheitsfeinden von 0,0001 mm Millimetern Durchmesser in Deutschland ihren Anfang, tagelang unbemerkt.
Und dann: Der „große Schreck“
Auch bei Irene Nobis, 57, systemische Therapeutin aus dem 3.000-Seelen-Dorf Birgden, war das Virus ganz schnell ganz nah, bevor sie oder sonst wer auch immer nur etwas davon ahnen konnte. Eine Woche nach der Kappensitzung waren drei Dutzend Leute bei ihr zu Gast: Geburtstagsfeier der Tochter, die über die tollen Tage aus Norddeutschland zu Besuch gekommen war. Dann kamen die ersten Coronameldungen über Bernd B., der, vorbelastet nach einem Krebsleiden, mit schweren Symptomen auf die Intensivstation gekommen war und sofort ins künstliche Koma versetzt werden musste.
Irene Nobis erinnert sich an ihren „großen Schreck“: „Den kenne ich, sein Büro ist hundert Meter weiter.“ Ihr Schwiegersohn war auch auf der Kappensitzung, danach beim Karnevalsumzug, dann bei ihr. „Ich bin sofort in freiwillige Isolation gegangen.“
Größte Sorge: Ihre Mutter nebenan war an Bronchitis erkrankt. Lange Ungewissheit. Dann endlich die Tests. Die Ergebnisse: Mutter negativ, sie auch, anders die Tochter. „Die war sogar quasi berühmt, kam als erst dritter Fall in Schleswig-Holstein ins Fernsehen.“ Aha, Heinsberg, hieß es. Insgesamt wurden sechs Personen von Nobis’ Feier positiv getestet.
Die Heinsberger Gegend – halb Mittelrhein, halb Niederrhein – ist nicht gerade menschenleer, es gibt ein paar Städte wie Heinsberg selbst, Erkelenz, Geilenkirchen, Wegberg, ansonsten aber viel Platz zwischen den Dörfchen, besonders im Selfkant. Hier franst Deutschland aus. Die Flüsslein heißen Rur und Wurm.
Man wundert sich, dass der Kreis dennoch auf 250.000 EinwohnerInnen kommt. Als vor ein paar Jahren tatsächlich ein Fremdenverkehrsbüro aufmachte, fragten sich die arroganten Nachbarn in Aachen, Mönchengladbach oder Köln naserümpfend: Wozu? Fährt da wer freiwillig hin? Doch, zum Beispiel zu Radtouren in den lauschigen Naturpark Schwalm-Nette. Oder zu Wanderungen in die zauberhaften Heidelandschaften.
Ackerbau dominiert, Getreide, Spargel, im Norden vor allem der Zuckerrübenanbau. Dessen Ernte 2019 ist besser gewesen als 2018. Das ist wichtig hier. Es ist so flach, dass man, um mit dem großen Niederrheiner Hanns-Dieter Hüsch zu sprechen, morgens schon sehen kann, wer nachmittags zu Besuch kommt. Wahrscheinlich gibt es auch eine höchste Erhebung, man weiß nur nicht, welcher der Kirchtürme im Kreis das wohl ist. Die katholische Konfession dominiert. Weniger als 50 Prozent bei Wahlen wären für die CDU ein Debakel.
Vielleicht sind aber auch die Abraumhalden bei Hückelhoven die mächtigsten Erhebungen. Hier wurde bis 1997 nach Steinkohle gegraben. Heute schrumpft der Kreis Heinsberg: die Braunkohlebagger von RWE graben bei Immerath Dorf um Dorf weg. Immerhin hat man durch das Braunkohleloch den tiefsten Punkt Deutschlands aufzuweisen: etwa minus 300 Meter.
Kurz: Das vermeintlich rückständige Heinsberg war immer schon, besonders im Karneval, Objekt des Spotts. Seit Ende Februar aber müssen sich HeinsbergerInnen wie Kriminelle fühlen. Nebenan in Holland, jenseits der letzten offenen Grenze Deutschlands, werden Halter mit dem Autokennzeichen „HS“ als „Coronaschleudern“ beschimpft oder die Autotüren werden zugehalten, damit die Insassen nicht aussteigen können. Andere erzählen, man habe sie in den Cafés, solange diese noch geöffnet waren, nicht bedient.
Selbst Gefangene sollen im Kreis bleiben
Ansässige Firmen, etwa im Industriebau, verlieren Aufträge: bloß kein Produkt aus Heinsberg, igitt. Die Leiterin der JVA Heinsberg berichtet, andere Anstalten weigerten sich, Gefangene zu übernehmen: „Wir sind verpönt, weil wir angeblich die Wurzel allen Übels sind.“ Sternekoch Alexander Wulf aus Randerath schimpft sarkastisch: „Man muss sich ja schon schämen, wenn man sagt, man sei aus Heinsberg.“
Beim Missionskreis Osteuropa in Süsterseel warteten neulich 2.500 Bananenkisten voll mit Hilfsgütern auf den Lastwagenfahrer aus Rumänien. Der sonst so zuverlässige Mann kam einfach nicht. Heinsberg?, nein, sagte er am Telefon, da müsse er sonst daheim zwei Wochen in Quarantäne, direkt an der Grenze. Auf Facebook erschien derweil eine Ortsschild-Fotomontage „Heinsberg – Partnerstadt von Wuhan“. Angstprojektion, hilflose Abgrenzungsversuche.
Auch Irene Nobis kennt solche Geschichten: In Mönchengladbach wurden Autos von zwei Freundinnen attackiert: bei dem einen die Reifen zerstochen, bei dem anderen der Lack zerkratzt. Während wir darüber reden, ploppt auf ihrem Tablet via Facebook eine Warnung auf: „Achtung. Ab 23 Uhr in ganz Gangelt alle Fenster schließen, die Orte werden aus der Luft desinfiziert …“ Auch lustig.
Distanzierung geht auch umgekehrt. Der Versicherungskonzern Generali im benachbarten Aachen lässt vorsichtshalber keine Heinsberger MitarbeitInnen mehr in seine Büros, immerhin 80 von 1.600. Auch an der Technischen Hochschule der Kaiserstadt gilt: Angestellte aus dem Kreis Heinsberg haben zwar „kein ausdrückliches Betretungsverbot“, so die Pressestelle der Universität „in Absprache mit dem Krisenstab“.
Aber wenn „Homeoffice mit Blick auf das Aufgabenprofil nicht sinnvoll“ ist (zum Beispiel bei einem Hausmeister), sei es bislang „zu keinem Nachteil für die Beschäftigten gewesen, wenn sie vorübergehend ihrer Arbeit nicht nachgekommen sind“. Heißt großzügigerweise: nicht arbeiten, trotzdem voller Lohn. Noch ist niemand auf die Idee gekommen, flugs nach Heinsberg umzuziehen und sich lächelnd in den bezahlten Urlaub zu verabschieden. Das wäre positive Selbstdiskriminierung.
Jörg V., der Pendler nach Heinsberg
Jörg V. hat all diese Berührungsängste nicht. Der 56-Jährige fährt täglich von Aachen in die Gangelter Klinik „Maria Hilf“, wo er als Oberarzt in der Psychiatrischen Institutsambulanz arbeitet. Das erlebe er als völlig normal, auch andere Kollegen pendelten von auswärts Tag für Tag ein. Andere im Team hatten das Virus längst gehabt, „milder Verlauf, ausgeheilt“.
Nach einer Lungenerkrankung vor Jahren sei er selbst Risikoperson, berichtet V. Schon mehrfach habe er bei Klientengesprächen auch flüchtigen Kontakt zu Infizierten gehabt, und neulich auch selbst plötzlich Erkältungssymptome verspürt. Ein Schreck? „Na ja, tiefenentspannt bin ich nicht. Aber nein, kein Test, keine Panik“, sagt er. „Ich erlebe Gangelt wirklich ganz normal. Es bleibt immer die Frage, wie gehen wir mit Angst um. Mich beunruhigt das belgische Atomkraftwerk Tihange nebenan viel mehr als das Virus. Vor dem kann ich mich zu schützen versuchen.“
Seine Frau Sabina ist unschlüssig: Eigentlich ist sie die reflektierte Gelassenheit in Person. Aber wenn Jörg nachts, bei ausgesetzter Kontrolle, „neben mir unbemerkt hustet und die Viren durchs Schlafzimmer fliegen …?“ Sie schläft jetzt separat.
Unter den Infizierten bei der Kappensitzung, stellte sich irgendwann heraus, war auch ein Besucher aus Köln. Viruswinzige Genugtuung in den Netzwerken: Sogar aus dem Epizentrum des Frohsinns kommen welche zu uns feiern.
Irene Nobis über die Ausbreitung
In Heinsberg schlossen die Schulen sofort nach dem ersten Fall, Kitas machten zu, Geschäfte. Gab es nicht Reflexe, zumindest Gangelt und seine umliegenden Gemeindeteile komplett abzuriegeln? „Haben wir nie vorgehabt“, sagt CDU-Landrat Stephan Pusch, 51, „das ist auch nicht meine Auffassung von einem demokratischen Staat.“ Wegen des Zeitverlustes wäre es ohnehin zu spät gewesen. Das Virus war ja längst auf seiner Reise.
Der umtriebige Pusch (Kindheitstraum Westernheld) hat am vorvergangenen Wochenende, weil er an der langsamen Bürokratie verzweifelte, einen Brief „an die Regierung von China“ geschrieben mit der flehentlichen Bitte um Schutzkleidung und Masken. Viele haben darüber gelächelt. Am Freitag ist die erste Vorablieferung tatsächlich angekommen. Und es folge noch deutlich mehr, hätten ihm die Chinesen versichert.
Der Chinese von Birgden fährt lieber nicht nach Südtirol
Apropos China: In Birgden, mit Blick auf das improvisierte Ärztezelt auf dem weitläufigen Ortsplatz Großer Pley, leben die Eheleute Marie-Luise, 70, ehemalige Bürokauffrau, und Seung Yu Fung, 73, gebürtiger Hongkong-Chinese, früher Informatiker im Versicherungsbusiness. Ihr Sohn Christian, Hirnchirurg in Freiburg, mahnte seine Mutter vom ersten Tag: „Mama, geht gar nicht mehr raus. Bleib zu Hause. Mach am besten gar nichts.“
Jeder kenne hier wen, der positiv ist, sagt Marie-Luise. „Und manche wirklich Alte haben sich wie eingebunkert; da ist man froh, wenn man jemanden von denen zufällig wiedersieht.“ Natürlich gehen die beiden Fungs raus, kontaktarm: Spazieren gehen sie immer, mindestens eine Stunde am Tag.
Stephan Pusch, Landrat
Auch sie kennt die Stigmatisierung, jedenfalls die indirekte: „Die Holländer meiden uns wie Aussätzige. Die kommen nicht mal mehr zum Aldi.“ Prima, dürften Einheimische denken, bleibt für uns mehr zu hamstern. „Auch nach Wochen passiert das noch. Ich verstehe das nicht“, sagt Marie-Luise Fung. Der wortgewandte Landrat Pusch, der sich „nicht als Popstar sieht, sondern als Spielführer, Speerspitze und Sprachrohr eines starken Teams“, hat zu den Panikkäufen den schönen Satz geprägt: „Die Angst ist da am größten, wo die echte Betroffenheit am geringsten ist.“
Seung Yu Fung, Mitte der 1960er Jahre mit seinem Vater nach Deutschland gekommen, ist der einzige Chinese am Ort. Nein, sagt er, rassistische Reaktionen habe er zum Glück nie erlebt: „Aber man kennt mich ja hier auch seit mehr als 50 Jahren.“ Allerdings – er und seine Frau wollten in diesen Tagen eigentlich nach Südtirol fahren: Chinese, Autokennzeichen „HS“, heimkehrend aus dem Corona-Hotspot der Alpen. „Im besten Fall“, scherzt er, „hätten mich die Leute wahrscheinlich in eine Tonne voll mit Desinfektionsmitteln tauchen wollen.“
Nein, sagt Fung, „lasst uns mal schön gelassen bleiben. Was auch sonst.“ Und er mag die Ruhe. Nur schade, dass er derzeit nicht joggen kann, „der Rücken …“ Stattdessen: Rommé spielen jeden Tag, obwohl er das gar nicht besonders mag. Und Marie-Luise auch nicht, jedenfalls nicht mit ihm, „viel lieber mit der Freundin“. Aber die ist in Coronazeiten nebenan ganz weit weg.
Irene Nobis berichtet nach jetzt bald sechs Wochen in Eigenquarantäne, sie kenne mittlerweile sechs Leute, die derzeit ins Koma gefallen seien, „und alle zwischen 50 und 60. Das ist …“ Sie sucht nach Worten. „Es ist so: All die Zahlen haben Gesichter bekommen.“ Auch ihr früherer Ehemann habe stationär gerade eine schwere Lungenentzündung glücklich überstanden.
Nein, auch sechs Wochen Isolation seien okay, nur arbeiten gehe halt nicht, Einkommen derzeit null. Geduld sei gefragt, sagt sie. Und kein Gerede von Exitstrategien bei den Ausgangsbeschränkungen, die alle anderen jenseits von Heinsberg erst seit einer lächerlichen Woche kennen. Gartenarbeit helfe, sagt sie, „mich richtig auspowern“. Und direkte Sozialkontakte gebe es immerhin zu den Nachbarn über den Zaun. Längst nennen sie sich im Großraum Heinsberg „Schicksalsgemeinschaft“.
Ein kleines bisschen aufatmen
Bernd B., der als Erster den Virus in sich trug, kämpfte über drei Wochen künstlich beatmet um sein Leben. Jetzt scheint er das Schlimmste überstanden zu haben. Er wird von den ekelhaften Beschimpfungen und Schuldzuweisungen hören, die ihn in den Netzwerken verfolgten. Woher der arme Mann als Gangelts „Patient 0“ das Virus hatte, wird man wohl nie erfahren.
Heinsberg hat nach wie vor prozentual die mit Abstand meisten nachgewiesenen Infizierten in Deutschland. 1.246 waren es am Sonntag, das sind knapp 0,5 Prozent der Bevölkerung. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 0,007. Auch die meisten Coronaopfer – aktuell 31 – gibt es in Heinsberg. Aber: Die Differenz zwischen Neuinfektionen und Gesundeten ist seit einer Woche ausgeglichen, sogar mit leichter Tendenz nach unten.
Atmen die Menschen allmählich auf? „Ein ganz kleines bisschen“, glaubt Landrat Pusch. Und dann muss er sich schon wieder ärgern, über „Pappnasen wie diesen Christian Lindner, der schon nach vier Tagen davon redet, die Kontaktbeschränkungen wieder zu lockern. In Heinsberg fangen wir nach über einem Monat mit ganz kleinen Dingen wieder an.“ Seit Mitte März gehen die ersten infizierten Teilnehmer der Kappensitzung wieder zur Arbeit.
Der Autor, wohnhaft in Aachen, kennt viele Orte im benachbarten Kreis Heinsberg von diversen beruflichen und privaten Terminen, seit Langem auch die meisten der Interviewten. Hingefahren ist er dennoch nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos