Der Hausbesuch: Sie ist doppelt betroffen
Maya Grossmann ist in Charkiw geboren und jüdisch. Nach dem 24. Februar 2022 erfuhr sie viel Solidarität in Deutschland, nach dem 7. Oktober 2023 nicht.
Wenn Maya Grossmann Nachrichten liest, fühlt sie sich oft einsam.
Draußen: Unweit von ihrem Haus beginnt die Altstadt von Erfurt. Maya Grossmann schwärmt von der Krämerbrücke über der Gera. „Da ist es so schön im Sommer.“ Sie liebe die Cafés. „Seit ich in Erfurt bin, weiß ich, was eine richtige Altstadt ist.“ Eine Plakette an einer Turnhalle weist darauf hin, dass während des Nationalsozialismus „200 jüdische Mitbürger Erfurts“ an dem Ort „von Faschisten zusammengetrieben und grausam mißhandelt“ wurden. Auf einem Hochhaus steht „Fck AfD“.
Drinnen: In einem schmalen Regal in Grossmanns WG-Zimmer stehen Bücher, darunter eines, in dem sie als Bielefelder „Pickert-Prinzessin“ zu sehen ist. „Das war ein Modeljob während des Studiums“, Grossmann lacht. Wenn sie auf ihrem Sofa sitzt und erzählt, wird sie manchmal ernst, anderes nimmt sie mit Humor. Vor der zartrosa Wand gegenüber vom Bett reihen sich Postkarten aneinander. Mit Verweis auf eine mit Israel-Flagge sagt sie: „Ich war paarmal dort, einmal mit einer organisierten Gruppe für Menschen mit jüdischen Familienmitgliedern.“ Sie zeigt ein Kondom, auf dem steht: „It’s still safe to come“, „das haben wir bei der Fahrt bekommen“.
Zionismus: Immer, wenn es um Gespräche über Israel geht, stelle sie als Erstes klar, warum ihr das Land wichtig ist: „Wir wissen, wenn wieder etwas passiert, können wir dorthin und werden nicht sterben müssen.“ Grossmann betont, dass sie Zionistin ist – gerade in diesen Zeiten. „Zionist“ sei ein Schimpfwort geworden. „Früher hat man gesagt: ‚du Jude‘, 'heute sagt man: ‚du Zionist‘.“ Für sie heiße das schlicht und einfach, dass man dem jüdischen Staat Israel wie jedem anderen Land auch ein Existenzrecht zugesteht. „In den linken Kreisen, in denen ich mich verorte, fühle ich mich, wenn ich mich oute, nicht willkommen.“
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Aufwachsen: Geboren ist die 31-Jährige in Charkiw, in der Ukraine. Grossmann war sieben Jahre alt, als ihre Familie auswanderte. Ihre Kindheitserinnerungen seien schön, sagt sie, auch wenn der Alltag für die Eltern hart war. Grossmann erinnert sich, wie abends Klavier gespielt wurde, aber ihre Mutter war nicht da, sie musste Geld verdienen. Die Flucht nach Deutschland kam überraschend. „Wir sind zwei Tage mit dem Bus gefahren – aus der zweitgrößten Stadt der Ukraine in ein kleines Dorf bei Osnabrück in ein Übergangslager.“ Ihre Familie wollte eine bessere Zukunft. Eigentlich wollte niemand weg. „Aber man hat in der Ukraine keine Perspektive gehabt, kein Geld verdient, trotz Arbeit.“
Lager: Aus dem Lager versuchten sie „so schnell wie möglich rauszukommen“, um in eine Stadt zu ziehen. Grossmann konzentriert sich auf das Positive: „Ich habe dort eine Freundin kennengelernt, mit der ich heute noch Kontakt habe.“ Die Tatsache, dass Grossmann, weil sie jüdisch ist, als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland kommen konnte, habe ein paradoxes Gefühl ausgelöst. Das Judentum hatte in Deutschland eine andere Bedeutung.
Judentum: „Das Judentum wurde in der Ukraine überhaupt nicht gelebt“, sagt sie. „Ich wusste, dass wir Juden sind, sollte das aber niemandem sagen.“ Die großen jüdischen Feiertage wurden trotzdem gefeiert, „heimlich, niemand wollte Jude sein in der Sowjetunion“- Die religiösen Feste haben für sie vor allem mit Flucht und Vertreibung zu tun. „Sie sind immer verbunden mit: Man wollte uns irgendwann ausrotten – aber wir leben noch, wir trinken auf das Leben.“
Zugehörigkeit: Sie erzählt, dass sie in der Ukraine nicht als Ukrainerin galt, „in meiner Geburtsurkunde steht: Vater, Mutter: Jude.“ Wenn sie gefragt wurde, ob sie Ukrainerin sei, habe sie dennoch immer Ja gesagt, „und wenn ich gefragt wurde, was ich glaube, sagte ich: Ich bin Atheistin.“ Grossmann sagt, dass sie keine „Vorzeigejüdin“ sei, „ich halte keinen Schabbat, esse Schweinefleisch.“
Wege: In Hannover, wo sie schließlich aufwuchs, sind sie „in einer Hochhaussiedlung, in einem Brennpunkt“, angekommen, dort wurde „nur Russisch gesprochen“. „Ich habe bis zur dritten Klasse kein Deutsch geredet. Die Einzige, deren Muttersprache Deutsch war, war die Klassenlehrerin.“ Nach Erfurt kam sie zum Studium, machte einen Bachelor in Sozialwissenschaften, einen Master in Politikwissenschaft. „Ich habe meine Masterarbeit über die Wahrnehmung von sowjetischen Kontingentflüchtlingen geschrieben“, erzählt Grossmann, auch wenn es schwer gewesen sei, einen Betreuer zu finden. Nach dem Abschluss arbeitete sie an der Uni Hildesheim. „Aus dem Homeoffice.“
Der 24. Februar: Derzeit beschäftigen sie vor allem Kriege – und zwar zwei. „Nach dem 24. Februar, als der Krieg in der Ukraine begann, hat mich das mehr getroffen als erwartet“, sagt sie über den russischen Angriff. „Es hat mich total getroffen, dass meine Heimatstadt bombardiert wird.“ Freund:innen der Familie, die sie zurücklassen musste, seien inzwischen auch in Deutschland angekommen. „Wir haben nie gedacht, dass wir uns in so einem Rahmen wiedersehen.“ Auch die Annexion der Krim habe sie extrem beschäftigt. „Ich habe dort als Kind jedes Jahr Urlaub gemacht.“
Antisemitismus: In ihrem letzten Job hat sie Geflüchtete aus der Ukraine unterstützt. Es berührte sie, wenn sie Menschen in der Stadt traf, die sich für ihre Hilfe bedankten. Aber sie hat nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Allmählich habe sie verstanden, warum ihre Familie in der Sowjetunion wollte, dass sie ihr Jüdischsein verheimlicht. Grossmann erzählt von antisemitischen Äußerungen: „Einmal ging es darum, dass Juden viel Geld hätten und reich seien. Ich habe einer Dame beim Zahnarzt geholfen, über den sie dann sagte, er wolle sie ausnehmen. Sie hat gesagt, er sei ‚ein richtiger Jude.‘“ Ein andermal habe es geheißen: „Eigentlich sind die Juden schuld am Krieg, denn Selenskyj, der Jude ist, würde das Land an Israel verkaufen.“
Frage und Antwort: Grossmann vermutete, dass der Antisemitismus in Ostdeutschland allgemein stärker verbreitet sei, weil dort weniger Menschen mit Juden und Jüdinnen in Kontakt kämen. Darum erklärte sie sich bereit, beim Phoenix Festival in Erfurt als Jüdin „Frage und Antwort zu stehen“. Jemand wollte wissen, ob sie beim Militär diene, erzählt sie. „Ich habe mich gefragt: Bei welchem Militär?“ Die Person, die das wissen wollte, ging scheinbar davon aus, dass nicht nur Israelis, sondern auch alle jüdischen Menschen auf der Welt in Israel beim Militär dienen müssten.
Der 7. Oktober: Grossmann hat Verwandte in Israel, hat aber nie dort gelebt oder dort gewählt. „Trotzdem muss ich mich immer für die Politik dort rechtfertigen. Wenn ich mit Menschen in Deutschland spreche, muss ich ständig sagen: Niemand findet Netanjahu gut, ich auch nicht. Aber ich habe manchmal auch Angst, die israelische Regierung vor anderen zu kritisieren, ich will keinen Nährboden bieten.“ Nach dem 24. Februar hätte sie viel Solidarität erfahren, nach dem 7. Oktober fühle sie sich alleine. Sie habe in Deutschland zwar viele Freundinnen: „Aber im Zweifelsfall weiß ich nicht, ob sie mich beschützen und sich hinter mich stellen würden.“
Zuflucht: Seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober werde in ihrer Familie diskutiert, ob es Sinn macht, eine doppelte, also auch die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Aufgrund des steigenden Antisemitismus gewinnt das Land für Grossmann an Bedeutung. „Als ich nach dem 7. Oktober überall palästinensische Flaggen gesehen habe, schien das für mich so, als fänden die Leute gut, was die Hamas in Israel gemacht hat.“ Sie versuche, keine Kommentarspalten mehr auf Instagram zu lesen. Ihr haben Statements von Frauenrechtsorganisationen gefehlt, die sich mit israelischen Frauen solidarisieren. „Man kann schlecht finden, was Israel tut, gleichzeitig könnte man auch dagegen sein, dass Zivilistinnen angegriffen werden.“
Neuanfang: Ablenkung von den Katastrophen der Welt findet sie bei „Trash-TV“, im Fitnessstudio und beim Yoga. Und sie freut sich über einen Neubeginn: Ihre neue Heimat soll Tübingen werden. Sie hat einen Job bekommen, im Dezernat der Universität. Erfurt aber werde sie auf jeden Fall vermissen.
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