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Der Fall Tom RadtkeDer Junge braucht einen Arzt

Der Hamburger Linken-Kandidat zur Bürgerschaft sorgt mit wirren Tweets zum „Klima-Holocaust“ für Aufsehen. Seine Partei distanziert sich.

Tom Radtke kritisiert die Nazis, sie hätten zu viel CO2 ausgestoßen Foto: ap

BERLIN taz | Die Linke in Hamburg hat mitten im Bürgerschaftswahlkampf ein Problem: Es heißt Tom Radtke, ist Klimaaktivist, 18 Jahre alt, steht auf Platz 20 der Landesliste und ist seit einem Tweet am vergangenem Montag eine Internet-Berühmtheit.

„Heute vor 75 Jahren wurde Auschwitz befreit. Der Holocaust war eines der größten Verbrechen im 2. Weltkrieg“, twitterte er. „Die Nazis gehören auch zu den größten Klimasünder*innen, da ihr Vernichtungskrieg und ihre Panzer riesige Mengen an CO2 produziert haben. Wir müssen die Klimaerwärmung jetzt stoppen, damit sich ein Holocaust nicht wiederholt.“ Der Hamburger Landesverband der Linken beendete daraufhin die Zusammenarbeit mit Radtke, forderte ihn zum Rückzug von seiner Kandidatur auf und leitete ein Parteiausschlussverfahren ein.

Radtke ließ sich aber davon nicht beirren – und konterte auf Twitter mit der Ankündigung von Enthüllungen, zunächst gegen „Fridays for Future“ („Wenn ihr über mich lügt, sehe ich nicht warum ich eure dreckigen Geheimnisse (z. B. den Pädophilen bei FFF Hamburg) noch für mich behalte. Wenn keine Richtigstellung kommt, dann werde ich morgen alles erzählen. Auch zu Luisa“). Dann drohte er, einen nicht näher benannten SPD-Bundestagsabgeordneten auffliegen zu lassen: „Der Hamburger Bundestagsabgeordnete sollte aufpassen, sonst ergeht es ihm wie seinem ehemaligen Fraktionskollegen Edathy. Ich kenne die Namen einiger seiner Opfer.“

Schließlich beschuldigte er den Hamburger Linken-MdB Fabio de Masi auf Twitter einer außerehelichen Affäre, obwohl de Masi nach eigenen Angaben gar nicht verheiratet ist. Für Samstagabend kündigte er einen Livestream im Internet mit weiteren Enthüllungen an. Diese fielen aus. Sein Anwalt habe ihm davon abgeraten: „Es gibt viele Leute, die darauf warten, dass ich einen Fehler mache, um mich hinter Gittern zu sehen“, so Radtke.

Fabio de Masi spekulierte auf Twitter über eine psychische Erkrankung Radtkes: „Der Junge“ brauche „dringend einen Arzt“, schrieb er. Radtkes Landeslistenplatz 20 ist eigentlich aussichtslos. Aber in Hamburg können Bürger ihre Stimmen ausschließlich an Personen vergeben und damit Kandidaten von den hinteren Plätzen der Liste in die Bürgerschaft voten. Radtke wirbt inzwischen ganz offensiv damit: Auf dem Ausschnitt des Wahlzettels auf seiner Webseite sind alle fünf Personenstimmen bei ihm angekreuzt.

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23 Kommentare

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  • "Wirr ist das Volk." (Die Partei)

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @kommentomat:

      Wohl wahr.

      Vor allem dann, wenn eine Spass-Partei die ernsthaftesten Ansichten hat.

  • Es ist recht einfach: Der Typ hat se doch nich alle.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Beim Hinweis auf einen Arzt ist große Zurückhaltung geboten.

    Zum Einen fallen solche Aussagen häufig auf den Verursacher - oder auch Verbreiter - zurück.

    Zum Anderen gibt es andere Wege und Methoden, um in diesen Zeiten vorherrschender Dissonanzen unterschiedliche Meinungen und Haltungen zu klären.

    Manch Einer scheint nicht mehr zu wissen, dass dies auch MITEINANDER geht. Nicht nur übereinander.

    Glückauf!

    • @76530 (Profil gelöscht):

      Schließe mich dem an. Offenbar wurde parteiintern schon bei der Listenaufstellung nicht genug miteinander geredet, denn sonst hätte schon früher auffallen müssen, dass einige Positionen des Kandidaten mit den Positionen der Partei nicht kompatibel sind. Für die Wähler in Hamburg, zu denen auch ich gehöre, ergibt sich daraus allerdings überhaupt kein Problem, denn niemand muss doch Herrn Radtke wählen, der das nicht ausdrücklich möchte - wie Martin Reeh völlig zutreffend in seinem Beitrag ausgeführt hat.

  • T R hat gerade in einem sog. Live-Stream öffentlich ein dusseliges Krieg-Spiel gespielt und dabei Musik des rechstextremen Rappers Chris Ares de.wikipedia.org/wiki/Chris_Ares abgespielt.



    Für den Live-Stream wurde massiv von rechtsextremen Netz-Aktivisten werbung gemacht.

    • @Wagenbär:

      Rechte Portale feiern ihn mittlerweile auch schon als Widerstandskämpfer für die Meinungsfreiheit. Ich fand die erste Äußerung des jungen Mannes erst einmal nur unsinnig, aber tolerabel. Anscheinend steht er mit seinem Weltbild der neuen Rechten aber sehr nahe.

  • Es wäre ja eigentlich mal interessant, zu erfahren, wie der Mensch überhaupt auf die Liste gekommen ist.



    Wie wäre es mal mit einem Bericht, wie der Hamburger Parteitag der LINKEN aussah, bei dem man Menschen aufstellt, die lt. Aussage von Mandatsträgern "psychisch gestört" sein könnten?

    Die Spitzenkandidatin der LINKEN bei der letzten Bürgerschaftswahl trat schon vor der konstituierenden Sitzung aus der Partei aus und ist jetzt bei der SPD, nachdem sie vorher sogar Fraktionsvorsitzende war.

    Irgendwie stärkt das alles nicht mein Vertrauen in die Hamburger LINKE, dass sie sorgfältig Personen für die Positionen in der Bürgerschaft aussucht.

    • @Age Krüger:

      Auf Listenplatz 20? "Möchte noch jemand?"

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @Age Krüger:

      Anschließend mich.

      Die causa Radtke deutet nicht gerade auf ein glückliches Händchen bei der Personalauswahl bei der Partei DIE LINKE hin.

      So nachvollziehbar ich die Reaktion de Masis auch finde, so unglücklich finde ich sie. Ein direktes Gespräch mit seinem Parteifreund wäre da klüger gewesen.

      Zum Glück bin ich kein Hamburger.

      • @76530 (Profil gelöscht):

        Ich bin weißgott kein Anhänger der LINKEn (genaugenommen nicht einmal ein Sympathisant), aber solche Fälle können immer durchrutschen. Und sie rutschen häufiger durch wenn man sich bemüht junge Nachwuchspolitiker stärker einzubinden.

        Hier sehe ich keinen Anlass für eine Kritik an der Partei, es wurde schnell reagiert und scheinbar auch ausgesprochen konsequent. Wenn sich derartige Aussetzer häufen kann man sicherlich über den Zustand der Partei diskutieren, ein Einzelfall für sich kann immer passieren

        • 7G
          76530 (Profil gelöscht)
          @Questor:

          Ich sehe nichts Verwerfliches darin, Anhänger oder gar Wähler der LINKEn zu sein.

          Sie nennen die causa Radtke einen Einzelfall. Ich nicht. Dennoch dürfen Fehler immer und überall passieren. Wie sonst wollten wir aus ihnen lernen?

          Die LINKE Hamburg hat jetzt an dieser Stelle zu lernen. Reaktionen machen im Übrigen Versäumnisse nicht hinfällig. Es sei denn, es ist gewünscht, alles schweigend unter den Teppich zu kehren.

          Ist das Ihr Lösungsweg?

          • @76530 (Profil gelöscht):

            Moin,

            mir ist die Linke in elementaren Teilen zu populistisch um für mich wählbar zu sein, aber das ist persönlicher Geschmack.

            Mein Lösungsansatz ist eine schnelle und eindeutige Positionierung der Partei - das ist passiert.

            Darüber hinaus muss man selbstverständlich schauen ob es vorher schon Indizien gab die Herrn Radtke disqualifizieren. Das ist allerdings ergebnisoffen - es kann durchaus sein, dass es in der Personalie Radtke kein Fehlverhalten seitens der Partei gab. Schlichtweg weil man Leute nicht komplett durchleuchten und in deren Köpfe schauen kann.

            • 7G
              76530 (Profil gelöscht)
              @Questor:

              Moinsen,

              da sind wir beide völlig d´accord in dieser Angelegenheit.

              Schön, dass wir darüber sprechen bzw. schreiben konnten.

              ^^

  • Der Junge brauch keinen Arzt, sondern Polizeischutz! Es ist Mode geworden politisch unbequeme zu "psychisch Gestörten" zu erklären. Im wilhelminischen Kaiserreich wurden deswegen Irrenanstalten gebaut als gäbe es kein Morgen! Umerziehungslager nennt man das anderswo. Nicht nur politisch unbequeme jeder Art auch sozial unbequeme konnte man so bedrohen: Ehemänner durften ihre Ehefrauen, die nicht gehorchten, oder die sie verlassen wollten einfach einweisen lassen! Siehe Paula Modersohn-Becker. Bei den Nazis hieß der Grund zum wegschließen und zum schweigen bringen "moralisch schwachsinnig", in der DDR "asozial" Wenn eine vergewaltigte Frau vor Gericht als Zeugin aussagen muss, wird sie vom Verteidiger des Täters als "neurotisch, nicht normal, psychisch gestört" diffamiert. Alles bekannt. Nun trifft es eben einen Linken selber.

    • @Barrakuda:

      Das wirre Gefasel von Herrn Radtke lässt wie das wirre Gefasel von Herrn Trump schon vermuten, dass hier zuerst ein medizinsich-psychologsiches Problem vorliegt, und erst nachfolgend ein politisches - nämlich dass nicht wenige Menschen das Gefasel als politische Botschaft ernst nehmen und sogar begrüßen.

  • Nazi-Analogie

    Zitat: „Der Fall Tom Radtke. Der Junge braucht einen Arzt.“

    Nun, den bräuchten da eine Menge Leute. Die Liste wohlfeiler Analogien zwischen dem Hakenkreuzler-Regime und beliebigen Phänomenen des Zeitgeschehens ist lang, seit den 80er Jahren unter der Rubrik „Nazi-Vergleiche“ von der zeitgeschichtlichen Forschung kritisch abgeheftet. Sie reicht von Helmut Kohl (Gorbatschow sei wie Geobbels ein geschickter Propagandist), über den katholisch-grünen Bundestagsabgeordneten und DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß, der im Bundestag Abtreibungen schon mal mit dem Holocaust verglich („Babycaust“), den „Bomben-Holocaust“ der Hakenkreuz-Nostalgiker, den „Hühner-Holocaust“ der Türschützer bis Fischers Kriegsbegründung gegen Serbien („Nie wieder Auschwitz)!“ und der umstandslose Gleichsetzung von Hussein, Slobodan Milošević, Assad etc. mit Hitler bis zur Gleichsetzung von Putins Jugendbewegung „Naschi“ mit der Hitler-Jugend in der Frankfurter Rundschau und der Heuschreckendebatte mit Hitlers Judenverfolgung (Michael Wolffsohn in der Rheinischen Post). Ein wahres Festival dieser Analogie veranstaltet z. Zt. in Polen die dortige politische Klasse (und nicht nur das Kaczyński-Regime) mit der geschichtspolitischen Endlosschleife, Deutschland und Rußland hätten einen äquivalenten Anteil an der Auslösung des 2. WK usw. Im Grunde läuft die gesamte Totalitarismus-Doktrin auf dasselbe hinaus.

    „Die Nazi-Analogie gehört seit Gründung der Bundesrepublik zum probaten Totschlagarsenal in der politischen Auseinandersetzung“ (Norbert Seitz). Diese Rhetorik wird vom Holocaust Museum zu Recht als „Bestrebungen, Analogien zwischen dem Holocaust und anderen historischen oder zeitgenössischen Ereignissen zu schaffen“ als durchsichtige Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus scharf kritisiert.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Immerhin haben sich beide Laender abgesprochen, Polen unter sich aufzuteilen und sind annaehernd gleichzeitig einmarschiert.

      " ... Deutschland und Rußland hätten einen äquivalenten Anteil an der Auslösung des 2. WK"

      • @meerwind7:

        "(...) sind annaehernd gleichzeitig einmarschiert." (Meerwind7)



        Die deutsche 'Wehrmacht' marschierte am 1.9.1939 in Polen ein. Die 'Rote Armee' der SU konterte am 17.9.1939.



        Wenn das in Ihren Augen "annähernd gleichzeitig" ist, dann möchte ich mit Ihnen lieber keinen gemeinsamen Termin für absolut gar nix vereinbaren.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Nicht aber die Nürnberger Urteile der Alliierten. Diese sollen uns alle mahnen und erinnern, was inhumane Systematik ist, wie diese beginnt und was diese anrichten kann. Und inhumane Systematik ist sehr weit verbreitet, oder warum wird Profit über das Leben gestellt?

  • Mit Identitärenführer Martin Sellner hat Radtke ja schon einen Fan, der auf den Aufbau eines ganz neuen Freundeskreises schließen lässt. Gute Heimreise, Tom...

  • Die Wahl nach "Personenstimmen" ist echte Demokratie. Aber in Hamburg wird das Ganze von den Parteien hintertrieben. Sie vermitteln dem Wähler, er/sie müsse 5x die jeweilige Staatspartei (SPDCDUGRÜNFDP,egal) ankreuzen. Die Parteien boykottieren die Demokratie.

    In Hamburg war es wie immer das rechts-kapitalistische Bürgertum, dass mit der sog. Schulreform die direkte Demokratie (contra Staatsparteien) durchsetzte. Das hanseatische Bürgertum weiß, dass Proleten nicht zur Wahl gehen und sie selbst damit schnell ans Ruder kommen.

    de.wikipedia.org/w...lreform_in_Hamburg

    Auch die AfD und alle ihre Vorläufer kommen aus Hamburg.

    de.wikipedia.org/w...atlicher_Offensive

  • Das Internet war anthropogenetisch betrachtet vermutlich ein Schuss ins Knie. Mal sehn, wie weit die Menschheit mit diesem Knieschuss jetzt noch kommt...

     

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