Demokratietheoretiker über Identität: Es gibt keinen Präzedenzfall
Viele Formen der Identitätspolitik sind kontraproduktiv, sagt Yascha Mounk. Vielfältige Gesellschaften bräuchten ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl.
taz am wochenende: Herr Mounk, in Ihrem letzten Buch haben Sie sich mit der Herausforderung des Populismus für die Demokratie beschäftigt, jetzt ist die Diversität ins Zentrum Ihres Denkens gerückt. Warum?
Yascha Mounk: Die beiden Themen sind eng miteinander verwoben. Das Erstarken des Populismus ist ja auf die kulturellen und demografischen Veränderungen in unseren Ländern zurückzuführen. Wir befinden uns heute in einer gänzlich neuartigen Situation. Es gibt für unsere gegenwärtige Art der Demokratie keinen Präzendenzfall. In der Geschichte gab es relativ viele homogene Demokratien, es gab ein paar erfolgreiche multiethnische und multireligiöse Monarchien, aber für eine diverse Demokratie, die ihre Bürger wirklich fair behandelt, gibt es keine großen Beispiele. Deshalb ist es an der Zeit, darüber nach zu denken, vor welche Herausforderungen uns das stellt.
Heißt das, Diversität ist ein Problem für liberale Demokratien?
Die menschliche Psychologie neigt dazu, Mitglieder der eigenen Gruppe zu bevorzugen und Mitglieder anderer Gruppen zu diskriminieren. Das hat in der Geschichte immer wieder zu tiefen Ungerechtigkeiten geführt, zu Formen der extremen Dominanz einer Gruppe gegenüber der anderen, wie zum Beispiel in der Sklaverei. Oder es hat zu Formen der gesellschaftlichen Fragmentierung geführt, wie man sie jetzt im Libanon sieht, wo die Mitglieder der verschiedenen Gruppen kaum mehr etwas gemeinsam haben. Schließlich hat es zu Formen der Anarchie geführt, wo die Gruppen es nicht mehr schaffen, im Rahmen eines effektiven Staates zu kooperieren. Jetzt könnte man als Demokrat hoffen, dass unsere Regierungsform es uns erleichtert, mit diesen Schwierigkeiten um zu gehen. Aber das ist nicht unbedingt der Fall.
Warum nicht?
Yascha Mounk ist in Deutschland geboren und lehrt in Baltimore. Gerade hat er das Buch „Das große Experiment – Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert“ vorgelegt (Droemer Verlag).
Wenn ich in einer Monarchie lebe, dann hat meine Gruppe keine Macht, aber die anderen Gruppen auch nicht. Das heißt, wenn eine andere Gruppe schneller wächst als meine, verändert das meine politische Situation nicht. In einer Demokratie suchen wir hingegen immer nach Mehrheiten, und deshalb ist diese Angst vor dem demografischen Wandel, die ja von rechts so geschickt ausgenutzt wird, in unser System hinein gebacken. Deshalb stellt uns die Diversität vor Probleme, die wir ernst nehmen müssen.
Das heißt, Diversität funktioniert in autoritären Staaten paradoxerweise besser als in Demokratien?
Nicht unbedingt, weil autoritäre Staaten natürlich andere Probleme haben. Aber es gibt zumindestens einen zentralen Mechanismus der Demokratie, der es uns erschwert und der erklärt, warum die These vom Bevölkerungsaustausch so viel Ängste hervorruft.
Welche These meinen Sie?
Es gibt in den USA die Theorie, die ich übrigens für falsch halte, dass 2045 die Weißen keine Mehrheit mehr sein werden. Die These wird präsentiert von einer staatlichen Behörde, vom US Census Bureau, und kommt überaus wissenschaftlich daher. Aber den Untersuchungen der Behörde liegen sehr unrealistische Vorstellungen zugrunde. Zum Beispiel die Idee, dass jemand, der sieben weiße und einen schwarzen Vorfahren hat, automatisch als schwarz gilt, das ist die sogenannte „One Drop“-Regel. Oder die Idee, dass ein Einwanderer aus Spanien Hispanic ist und nicht als Weiß zu gelten hat. Das geht natürlich an der gesellschaftlichen Realität des Landes vorbei. In Wirklichkeit gibt es doch eine sehr starke Vermischung der Bevölkerungsgruppen und eine viel flexiblere Selbstdarstellung von Identität.
Ist eine Betrachtung der Gesellschaft anhand von ethnischen demografischen Linien untauglich?
Jein. Natürlich spielen ethnische Spannungen eine große Rolle. Natürlich kann man beispielsweise die USA nicht verstehen, ohne die sozioökonomischen Konflikte zwischen Weißen und Schwarzen in Betracht zu ziehen. Aber wir sehen an vielen Beispielen in der ganzen Welt, dass sich die Grenzen von Gruppen verschieben, verwischen und bewegen können.
Wie würden Sie denn die US-Gesellschaft im Jahr 2050 sehen?
Das hängt davon ab, welche Entscheidungen wir in den kommenden Jahrzehnten treffen, wie unsere Politiker reden werden, wie wir in den Medien und in den Schulen über Diversität reden. Momentan gibt es in den USA und auch in Deutschland den Irrglauben, dass es gut wäre, den Konflikt zwischen den Gruppen zu schüren. Das sieht man einerseits von den Rechtspopulisten, aber man sieht es auch von Teilen der politischen Linken, die denken, dass die immer größere Betonung des ethnischen Stolzes ein effizienter Weg sei, gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen. Das halte ich für einen großen Fehler.
Sie halten also die vielgescholtene Identitätspolitik für kontrapoduktiv.
Viele Formen der Identitätspolitik sind kontraproduktiv. Die liberale Demokratie ist nicht naturgegeben, und damit wir sie bewahren können, brauchen wir Institutionen, Schulen, Medien, Universitäten, die über diese Gruppen hinaus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen.
Sprechen Sie von einem Gemeinschaftsgefühl, das über so etwas Rationales wie Verfassungspatriotismus hinaus geht?
Es gibt drei verschiedene Konzeptionen des Patriotismus. Die erste ist ethnisch, dass also ein echter Deutscher nur derjenige sei, der Vorfahren hat, die schon immer in Deutschland leben, der aus einer christlichen Familie stammt. Diese Konzeption ist aus der Zeit gefallen. Diejenigen Intellektuellen, die verstehen, wie wichtig der Patriotismus ist, um über die Stammesloyalitäten hinaus Solidarität miteinander üben zu können, wählen dann normalerweise den Verfassungspatriotismus als Alternative. Dieses Konzept ist durchaus sympathisch. Aber es ist keine realistische Beschreibung dafür, wie Menschen sich tatsächlich fühlen. Die meisten Menschen interessieren sich nicht genügend für Politik, als dass sie jeden Morgen mit dem Grundgesetz aufstehen.
Was ist dann die Lösung?
Wir brauchen eine dritte Form des Patriotismus und zwar einen kulturellen Patriotismus: eine Liebe zur gelebten Realität im Land, die sowohl von der sogenannten Mehrheitskultur als auch von den Einwanderern geprägt wird.
Hat Deutschland denn von einem ethnisch geprägten Nationalismus genügend Abstand gewonnen?
Natürlich war das Selbstverständnis der deutschen Demokratie sehr lange stark ethnisch geprägt. Wenn man 1960 durch deutsche Fußgängerzonen gegangen wäre und die Leute gefragt hätte, was ein echter Deutscher ist, wäre die Antwort sehr deutlich ausgefallen. Und natürlich gibt es heute noch viele, die diesem Selbstverständnis weiterhin anhängen. Aber ich glaube tatsächlich, dass die große Mehrheit heute Nachfahren von Einwanderern von Mehmet Scholl bis Verona Pooth ganz selbstverständlich für Deutsche halten.Das Land hat jedenfalls enorme Fortschritte gemacht. Das wollen viele Rechtspopulisten nicht anerkennen, weil sie an der ethnisch behafteten Definition der Nation festhalten. Aber auch viele Linke wollen das nicht anerkennen, weil sie darin verliebt sind, den Rassismus als Wesenskern des Landes darzustellen.
Woran machen Sie die Fortschritte fest?
Es gibt eine sehr interessante Studie, die zeigt, dass sich Einwanderer gerade aus ärmeren Länder zwar zunächst schwer tun. Aber wir sehen, dass die zweite und dritte Generation einen wesentlich rascheren sozio-ökonomischen Fortschritt vorzeigt als etwa Deutsche mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund. Deshalb kommt die Studie zu dem Schluss, dass sich die Einkommenslücke zwischen sogenannten Bio-Deutschen und Einwanderern schneller schließt, als man annimmt.
Nun gibt es in Einwanderungsländern wie den USA und Kanada diesen Mythos des ethnisch einheitlichen Ursprungs eigentlich nicht. Trotzdem tut man sich mit Diversität schwer. Warum ist das so?
Den sozioökonomischen Erfolg der Einwanderer gibt es auch in den USA. Aber es gibt auch hier den Mythos aus der rechten Ecke, dass die Einwanderer aus Lateinamerika beispielsweise nicht die kulturellen Voraussetzungen dafür mitbringen, um im Land Erfolg zu haben. Aber das wird durch die Fakten ganz klar widerlegt. Es gibt eine sehr spannende Studie dazu, mit mehr als einer Millionen Datenpunkten, die belegt, dass diesen Einwanderern genauso schnell der soziale Aufstieg gelingt, wie deutschen, italienischen und irischen Einwanderern vor 100 Jahren. Trotzdem gibt es Spannungen zwischen den Gruppen. Das manifestiert sich in den USA insbesondere in der Sklaverei, im „Jim Crow“-System der Rassentrennung und in einem jahrhundertealten System der harten Dominanz. Dieses System hat einen Widerhall in der Gegenwart. Es erklärt, warum es tatsächlich Nachbarschaften gibt, die extrem arm sind, in denen es eine sehr hohe Kriminalitätsrate gibt, in der Menschen von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen sind. Dieses Problem ist ein wichtiger Teil der Realität der heutigen USA. Aber es ist nicht die modale Erfahrung von schwarzen Amerikanern. Der durchschnittliche Afroamerikaner lebt heute in einem Vorort, ist ein paar Jahre an die Uni gegangen, hat einen Job in einem Büro oder als Lehrer oder in einem Krankenhaus.
Trotz allem werden insbesondere in den vergangenen zwei Jahren die Stimmen lauter die sagen, es wird sich nie etwas ändern.
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Es gibt weiterhin ein Gefälle bei Löhnen und vor allem bei Vermögen, das sich aus der Geschichte ergibt. Es gibt natürlich auch Diskriminierung und Rassismus. Aber die Idee, dass die USA heute noch so rassistisch seien wie 1960 oder auch nur 1990, als die meisten Amerikaner noch dagegen waren, dass sich Menschen verschiedener Ethnien gegenseitig heiraten, das ist nicht nur unrealistisch, es verhöhnt auch diejenigen Menschen, die eine noch viel schlimmere Form der Ungerechtigkeit erlebt haben. Interessanterweise ist diese extrem pessimistische Sicht unter Weißen weitaus beliebter als unter Schwarzen und Latinos. Da gibt es einerseits Herrn Trump, der 2016 gesagt hat, an schwarze Wähler gerichtet – wählt mich, ihr habt sowieso nichts zu verlieren. Es gibt aber auch die hochgebildeten weißen Absolventen prestigeträchtiger Hochschulen, die aus der Selbstgeißelung eine Art neuer Identität geschöpft haben.
Um den Bogen zur Ukraine zu spannen. Entspringt der Konflikt in den Ukraine ebenfalls dem Problem der Diversität, ist das eine ethno-nationalistischer Konflikt?
Nein. Putin hatte einen ethno-nationalistischen Blick auf die Ukraine, er sieht die Ukraine als Teil des ethnischen Russland. In der Realität sind nationale Unterschiede aber komplizierter und beruhen auch auf einer gewachsenen Kultur. Ethnisch gesehen sind Österreicher nicht anders als Deutsche und trotz einiger seltsamer Eigenheiten ist auch die Sprache dieselbe. Und doch wäre es ein Fehler zu denken, es gebe keine kulturellen Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland. Das erklärt sich aus einem gewachsenen kulturellen Bewusstsein dafür, wie diese Länder in den letzten 100 Jahren geprägt worden sind. Insofern halte ich den ungeheuren Patriotismus, den die Ukrainer an den Tag legen, um sich gegen den Angriff Putins zu wehren, für einen Beweis der Stärke eines Patriotismus, der eben nicht nur ethnisch behaftet ist.
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