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Streitschrift zu SozialkonstruktivismusFoucault und die Folgen?

Helen Pluckrose und James Lindsay wollen zeigen, warum radikaler Sozialkonstruktivismus der Emanzipation schadet. Dabei tun sich Widersprüche auf.

An US-Universitäten (hier Harvard) greifen Theorien um sich, die eine illiberale Haltung begünstigen Foto: AP, Steven Senne

Anzuzeigen ist ein Buch, das zumal von jenen, die es kritisiert, ernst genommen werden sollte. Geht es doch um die These, dass der auf Michel Foucault und den Postmodernismus folgende radikale Sozialkonstruktivismus gerade nicht zur Befreiung stigmatisierter Individuen führt. Autorin und Autor dieser Kritik offenbaren sich schnell als kämpferische, individualistische sowie universalistische Geister, die um den Nachweis bemüht sind, dass die Emanzipation diskriminierter Gruppen längst vollzogen war, als Theorien aufkamen, die gesellschaftliche Diskriminierungen aus einem „Macht-Wissen-Komplex“ heraus erklären wollen.

Diese These entfalten Helen Pluckrose und James Lindsay an einer ganzen Reihe von Theorien: der postkolonialen Theorie, der Queer-Theorie, der Critical-Race-Theorie und der Theorie der Intersektionalität, den Gender Studies sowie den Disability und Fat Studies. Steht doch im Zentrum all dieser Theorien die radikale Kritik an sogenannten Normalitätsstandards, die letztlich dazu geführt hätten, alles, was diesen Standards nicht entspricht, abzuwerten und auszugrenzen.

Dabei – und das ist eines der Hauptargumente in diesem Buch – werden sie selbst widersprüchlich und der eigenen Absicht schädlich. Pluckrose und Lindsay behaupten etwa, dass Queer-Aktivisten, „maßgebliche sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten lächerlich“ machen und „Personen, die diese anerkennen, als rückständig und tölpelhaft“ darstellen.

Mit Blick auf die postkoloniale Theorie bestreiten die beiden zudem, dass es fortschrittlich sei, wissenschaftliche Forschung als Ausdruck von Herrschaftsinteressen zu charakterisieren. Besonders deutlich wird das Dilemma eines machtkritisch gewendeten Sozialkonstruktivismus beim Blick auf Krankheit und „Behinderung“ sowie „Fettleibigkeit“.

Das Buch

Helen Pluckrose, James Lindsay:Zynische Theorien“. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt. C.H.Beck Verlag, 2022, 380 Seiten, 22,00 Euro

Es lässt sich belegen, dass nicht wenige AutorInnen der „Disability studies“ bestreiten, Behinderungen würden tatsächlich die Lebensqualität beeinträchtigen. Diese Behauptung sei lediglich Ausdruck eines machtgestützten Normalitätskonzeptes.

Vor allem aber wollen Pluckrose und Lindsay nachweisen, dass die erwähnten machtkritischen Theorien in Wahrheit dazu führen, die Individuen nicht etwa zu befreien, sondern sie in ihren negativ bewerteten Rollen festzuschreiben. Um das zu zeigen, wenden sie sich der „Critical Race“-Theorie zu, die es den Individuen nicht überlässt, mitzuteilen, sie seien nur zufällig „schwarz“, sondern sie auffordert, sich einer Identität zu versichern, die unabweisbar mit einer derart stigmatisierten Gruppe verbunden ist.

Pluckrose und Lindsay werden nicht müde darauf hinzuweisen, in welchem Ausmaß diese Theorie auf dem US-amerikanischen Campus um sich gegriffen hat und illiberale Haltungen begünstigt.

Nicht zuletzt halten sie den von ihnen kritisierten Theorien vor, sich möglicher Falsifikation dogmatisch zu entziehen. Daher – so ein abschließendes Credo der beiden: „Wir bestreiten, dass irgendwelche Ideen, Ideologien oder politischen Ansichten als autoritative Position irgend­einer Identitätsgruppe identifiziert werden können, da solche Gruppen aus Individuen mit unterschiedlichen Ideen und einer gemeinsamen Menschlichkeit bestehen.“

Es ist in solch einer kurzen Rezension nicht möglich, den Reichtum und Scharfsinn dieses Buches angemessen zu würdigen, auch nicht, Widerspruch einzulegen oder zumindest Fragen zu stellen. Indes: Wer sich als emanzipatorisch versteht, kommt um die Lektüre dieser brillanten Streitschrift nicht herum – unabhängig davon, ob am Ende ein individualistischer, universalistischer Liberalismus überzeugender wirkt als eine machtanalytische und dekonstruktive Theorie gesellschaftlicher Identitäten.

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8 Kommentare

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  • Muss mir das vermutlich mal tiefer zu gemüte führen.

    Als Person, deren Denken stark durch die Außeinandersetzung mit Transhumanismus, Postmodernismus und queertheory geprägt ist muss ich das ja nicht zwangsläufig gut finden.

    Ohne den Orgnialtext bereits gelesen zu haben beziehe ich mich nur auf das was hier herauslesbar ist, ich kann mich dabei natürlich in meiner Interpretation auch irren.

    Das Argument, wir würden in einem postemanzipatorischen Zeitalter leben kann ich jedenfalls nicht nachvollziehen.



    Auch scheint es mir, als würden die Autor:innen Sozialkonstruktivistische Thesen und Identitätspolitik gleichsetzen. Diese sind zwar eng miteinender verwoben, die eine ist eine Ableitung der anderen, sie sind jedoch nicht das Selbe.

    In sozialkonstruktivistischen Theorien versuchen wir zuerst nur, eine Beschreibung der Dinge, die menschengemacht sind, zu finden. Dies kann dauz dienen Machtstrukturen strukturel zu beschreiben und daraus Handlungsoptionen abzuleiten.

    Identitätspolitik ist dabei das Ergebnis Sozialer Konstruktionen die repressiv übergestülpt werden.



    Meine damit beispielsweise "Queer Rage", sprich: wenn ihr uns anders behandelt dann tun wir mal was ihr eigentlich verlangt und ownen die von euch aufgezwungene Identität so hart, dass ihr es irgendwann nicht mehr aushaltet.

    Mal sehen was dabei herauskommt, wenn ich mal Zeit hab mir zumindest mal ne Barrierefreie Zusammenfassung zu Gemüte zu führen.

  • Klingt nach einem spannenden und wichtigen Buch. Postkoloniale Theorie, Queer-Theorie, Critical-Race-Theorie, Theorie der Intersektionalität, Gender Studies sowie Disability und Fat Studies bedürfen dringend einer kritischen wissenschaftlichen Bewertung, da sie sehr wirkungsmächtig geworden sind und in vielen Bereichen den Diskurs beinahe vollständig beherrschen.

    • @Stefan Schaaf:

      "bedürfen dringend einer kritischen wissenschaftlichen Bewertung"



      Was veranlasst sie zu der Annahme, dass an den entsprechenden Instituten nicht nach wissenschaftlichen Standards gearbeitet würde?



      "da sie sehr wirkungsmächtig geworden sind und in vielen Bereichen den Diskurs beinahe vollständig beherrschen"



      Na, ja, konkret dürfte das innerhalb einiger Bereiche der soziologischen Forschung der Fall sein, ähnlich wie eben die Quantentheorie der state of the art für große Teile der Physik ist. Allerdings mit dem Unterschied, dass die meisten Nicht-Physiker*innen zugeben können, dass ihre Expertise zu Quanten eher begrenzt sind und sich deshalb zu dem Thema zurückhalten, während zu Queer-Theory und Gender-Studies ziemlich viele Leute mit wenig Ahnung viel Meinung zu dem Thema haben.

      • @Ingo Bernable:

        Der Vergleich zur Quantenphysik hinkt doch zumindest insofern, als es sich dabei um eine exakte Naturwissenschaft handelt, deren Theoreme empirisch, also im Experiment mit prädefinierten Bedingungen (Design, Instrumente, Annahmen etc.), grundsätzlich verifizierbar oder falsifizierbar sind. Wenn die Beobachtungen oder Resultate durch das bisherige Theorem nicht mehr erklärbar sind, könnte das bisherige Theorem/Paradigma fasch sein.

        Das Problem des radikalen Sozialkonstruktivismus ist seine dogmatische Hermetik bzw. die falsifikationsresistente Erstarrung vieler seiner Protagonisten/innen. Das hat wenig mit Wissenschaft, sondern mehr mit Ideologie mit wissenschaftlichem Anschein zu tun.

        • @O sancta simplicitas:

          qed



          Ihrer Einschätzung nach gibt es also 'richtige' Wissenschaften, bei denen alles genau mess- und eindeutig quantifizierbar ist und noch so ein paar 'Laberdisziplinen' die eigentlich eher "Ideologie mit wissenschaftlichem Anschein" sind. Ich würde dieser Sichtweise ja ebenfalls Radikalität unterstellen. Diese Art einer rein positivistischen Wissenschaft ist an den Universitäten meines Wissens nach seit geschätzt einem halben Jahrhundert überholt. Und zwar auch in den MINT-Fächern.



          Gibt es ihnen wirklich nicht mal ansatzweise zu denken, dass sozialkonstruktivistische Theorien bereits seit den 60ern entwickelt werden, post-strukturalistische mindestens seit den 70ern, dass es also um Konzepte geht die in den jeweiligen Disziplinen einen lange etablierten Standard darstellen? Dass es vielleicht gute Gründe dafür geben könnte, dass diese Ansätze in den Sozialwissenschaften seit inzwischen einigen Jahrzehnten genutzt und weiterentwickelt werden, während man dort positivistische Ansätze wie den Behaviorismus schon lange weitestgehendst verworfen hat?



          Dass sich diese Theorien seit einigen Jahren einer so massiven Kritik von einem Laienpublikum, das sie idR nicht oder nur extrem verkürzt versteht, ausgesetzt sehen, dürfte wohl eher dem verstärkten Kampf um die kulturelle Hegemonie im vorpolitischen Raum der neuen Rechten geschuldet sein.

  • Was ist das denn für ein merkwürdiger Sprachstil? Das liest sich wie eine etwas zu gestelzte Buchbesprechung für eine Proseminararbeit.

    • @Ruediger:

      Es ist ja auch ein akademisches Thema.

      Ich wage mal die Behauptung, dass der Anteil der Leser_innen ohne Abitur sich im einstelligen Prozentbereich bewegen wird.

    • @Ruediger:

      Tja Jung. “Mann - sieht nur - was mann kennt!“ Gelle.



      (servíce - alte Jägerweisheit - 🙀🥳 - ;)💤