Debatte um Völkermord an Armeniern: Türkei zieht Botschafter aus Wien ab
Das österreichische Parlament spricht in Übereinstimmung aller Fraktionen vom „Völkermord“. Die Türkei ist pikiert. Auch in Deutschland geht die Wort-Debatte weiter.
ANKARA/BERLIN dpa | Die türkische Regierung hat nach der österreichischen Parlamentserklärung zum „Völkermord“ an den Armeniern ihren Botschafter in dem Land zu Beratungen zurückbeordert. „Es ist klar, dass die Erklärung des österreichischen Parlaments die türkisch-österreichische Freundschaft dauerhaft beflecken wird“, hieß es am Mittwochabend in einer Mitteilung des türkischen Außenministeriums. Das Parlament in Wien hatte am Dienstag in einer gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren einen Völkermord genannt.
Im Ersten Weltkrieg waren Armenier im Osmanischen Reich als vermeintliche Kollaborateure mit dem Feind systematisch vertrieben und umgebracht worden. Zwischen 200.000 und 1,5 Millionen Menschen kamen nach Schätzungen ums Leben. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs lehnt die Bezeichnung „Völkermord“ vehement ab.
In Deutschland erinnern die christlichen Kirchen zusammen mit Bundespräsident Joachim Gauck am Donnerstag mit einem ökumenischen Gottesdienst an die Massaker. Die Kirchen bezeichnen die Gräueltaten des damaligen Osmanischen Reiches ausdrücklich als Völkermord. Es wird erwartet, dass auch der Bundespräsident, der im Berliner Dom eine kurze Rede hält, diese Bewertung übernimmt.
Grünen-Chef Cem Özdemir forderte die Bundesregierung zu einer Entschuldigung für die deutsche Mitverantwortung an dem Verbrechen auf. „Sie sollte sich dafür entschuldigen, dass der Rechtsvorgänger – das Deutsche Kaiserreich – damals untätig geblieben ist“, sagte Özdemir in Istanbul. Aus Dokumenten im Auswärtigen Amt in Berlin gehe eindeutig hervor, dass das Kaiserreich nicht nur von den Massakern gewusst, sondern sie "bewusst vertuscht" habe.
Die Regierungsfraktionen von Union und SPD stufen die Gräueltaten in einem Papier für eine Gedenkstunde am Freitag im Bundestag nach einigem Hin und Her erstmals als Völkermord ein. Die Bundesregierung unterstützt das. Bisher hatte sie ebenso wie der Bundestag diese Wortwahl aus Rücksicht auf den Nato-Partner Türkei vermieden. Auch im ersten Entwurf für den Antragstext fehlte der Begriff Völkermord.
Özdemir kritisierte, zwar „erlaubt“ die Bundesregierung den Parlamentariern der Regierungsfraktionen, von Genozid zu sprechen, aber:„ Sie selber meidet den Begriff des Völkermords hartnäckig.“ Özdemir führte das auf falsche Rücksichtnahme von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zurück.
„Ich halte die Meinung von Frau Merkel und Herrn Steinmeier für grundlegend falsch. Hasenfüßigkeit und Kuscheln mit Herrn Erdogan beeindrucken ihn nicht. Das führt im Gegenteil dazu, dass er sich ermutigt fühlt, seine Verleugnungspolitik fortzuführen“, sagte Özdemir. Der Grünen-Chef nahm am Mittwochabend in Istanbul an einer Gedenkveranstaltung zu den Massakern an den Armeniern teil.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!