Debatte um Umgang mit Obdachlosen: War die Räumung gerechtfertigt?
In Berlin wird vor der Kältewelle ein Obdachlosencamp geräumt – kurzfristig und erbarmungslos. Nun tobt der Streit über den Einsatz. Ein Pro und Contra.
D ie Räumung war gerechtfertigt
Die Wettervorhersagen waren eindeutig in ihrer fast apokalyptischen Prognose: Schnee, eisiger Wind, Temperaturen im zweistelligen Minusbereich waren für das vergangene Wochenende vorhergesagt. Jede PolitikerIn, die zuständig für das Wohlergehen obdachloser Menschen ist, muss angesichts solcher Vorhersagen kalte Füße kriegen. Und handeln.
Vor diesem Hintergrund war die Räumung des Obdachlosencamps in der Rummelsburger Bucht am Freitagabend durch den Bezirk Lichtenberg notwendig und sinnvoll. Schließlich geht es um Menschenleben, in diesem Fall um das Bewahren vor dem elenden und völlig sinnlosen Tod durch Erfrieren.
Wie liefe die Debatte aktuell denn, wenn tatsächlich ein, zwei, vielleicht auch fünf oder noch mehr Menschen diesen harten Wintereinbruch in ihren Bretterbuden und Zelten in dem Camp nicht überlebt hätten? Es wäre vom Versagen der Politik die Rede, von völlig absehbaren Folgen durch die Kälte, vielleicht auch von falschem Humanismus und Angst der PolitikerInnen, sichtbare Herausforderungen direkt vor ihrer Haustür anzugehen.
Natürlich sollen Menschen in dieser Stadt möglichst so leben können, wie sie wollen, selbstbestimmt, selbstorganisiert, unabhängig von ihrer Lage. Und bekanntermaßen ist es oft schwierig, Menschen, die schon lange auf der Straße leben, zu überzeugen, für ein paar Tage oder Wochen zumindest nachts in eine Unterkunft zu gehen, bis die äußeren Umstände ein Leben auf der Straße wieder möglich machen. Vielleicht hätte man damit im Falle des Camps an der Rummelsburger Bucht auch schon früher anfangen können.
Nach der Räumung eines der größten Berliner Obdachlosencamps in der Rummelsburger Bucht sollen die Menschen in den kommenden Tagen auf feste Unterkünfte verteilt werden. Wie der stellvertretende Bürgermeister von Berlin-Lichtenberg, Kevin Hönicke (SPD), mitteilte, sollen die Menschen von der provisorischen Unterbringung in einer Traglufthalle an Hostels weitervermittelt werden.
Das Camp war in der Nacht auf Samstag laut Bezirk aus Sorge um das Wohl der Menschen aufgelöst worden. Auf der Brache an der Rummelsburger Bucht lebten die Menschen in Zelten und anderen Unterkünften. Bei der Obdachlosenzählung in Berlin vor einem Jahr war es der Ort mit den meisten Obdachlosen: 81. Das Areal ist Bauland. Dort sollen Wohnungen und die Touristen-Attraktion „Coral World“ entstehen. (dpa)
Aber manchmal muss Politik einfach schnell agieren, ohne lange Vorlauffristen, schlicht weil das Ziel wichtiger ist als der Weg dorthin. Diese Situation am Freitagabend war so eine, sie war existenziell. Und viele Menschen aus der Rummelsburger Bucht haben die Hilfe angenommen.
Am Ende der Saison der Kältehilfe in knapp zwei Monaten wird wieder gezählt – und zwar vor allem, wie viele Menschen im Winter auf der Straße gestorben sind. Jede und jeder Tote ist eine/r zu viel, heißt es dann für gewöhnlich und völlig korrekt. Diese Zahl möglichst bei null zu halten, muss das Ziel politischen Handelns sein, und dafür stehen auch die jüngsten Anstrengungen der Sozialverwaltung, das Angebot an Notunterkünften auszubauen und Obdachlosigkeit prinzipiell perspektivisch zu beenden.
Ganz nebenbei symbolisiert der Einsatz auch: Wir lassen euch da draußen nicht allein. Bert Schulz
Die Räumung war nicht gerechtfertigt
Das Camp in der Rummelsburger Bucht war ein selbstverwaltetes Zuhause für fast 100 Menschen – es ist nun unwiderruflich zerstört. Dies wurde vom Bezirk mit dem Verweis auf eine humanitäre Notwendigkeit gerechtfertigt: Schließlich erreichten die Minusgrade dieses Wochenende den zweistelligen Bereich. Um Kältetote zu vermeiden, sei kein anderes Vorgehen möglich gewesen.
Ein zweiter Blick auf die Räumung legt entweder Inkompetenz nahe – oder dass die Kälte als Anlass genommen wurde, ein drängendes Problem zu lösen: Denn auf dem Areal soll die Touristenattraktion „Coral World“ entstehen. Die Obdachlosen mussten also ohnehin weg – gab die Kälte hierfür etwa den idealen Anlass?
Mindestens war das Vorgehen des Bezirks denkbar unklug. Denn dass rund die Hälfte der Bewohner:innen Ersatzangebote ausschlagen würden, war erwartbar. So blieben laut Senatsverwaltung für Soziales letzte Januarwoche 121 der angebotenen 1.090 Notunterkunftsplätze leer – und das bei 11.000 obdachlosen Berliner:innen, wie die Caritas und das Diakonische Werk schätzen. Manch eine:r bevorzugt eben die Straße gegenüber den Unterkünften, wo Abstände nicht eingehalten werden können, wo Tiere und Substanzen verboten sind, wo gestritten und geklaut wird, kurz: wo autonomes Leben unmöglich ist.
Diese Menschen sitzen nun ohne jede Hilfsinfrastruktur auf der Straße – bei ebenjenen Minusgraden, vor denen der Bezirk sie doch beschützen wollte. Bestimmt hätten die Campbewohner:innen schon im Herbst darüber Auskunft gegeben, was sie benötigen, um durch den Winter zu kommen – und der Bezirk hätte es liefern können, wäre es wirklich um bestmögliche Unterstützung gegangen.
Stattdessen standen Bagger bereit, um Behausungen und Eigentum der Bewohner:innen zu beseitigen, sobald dies möglich wurde. Auf Twitter ist zu sehen, wie Hab und Gut eines Bewohnenden zerstört wird. Es ist wohl Protestierenden zu verdanken, dass nicht noch Freitagnacht alles dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Sicher wird die Kälte eine Rolle bei der Räumungsentscheidung gespielt haben. Aber das Bezirksamt Lichtenberg wird sich die Frage gefallen lassen müssen, ob es die Rolle eines Vorwands war. Also nein, die Räumung war nicht gerechtfertigt. Die kommerziellen Interessen eines Bauprojekts scheinen gegenüber dem Recht obdachloser Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben bevorzugt worden zu sein. Rot-Rot-Grün sollte es wirklich besser wissen. Timm Kühn
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