Debatte nach Leipziger Corona-Demo: Sächsischer Kontrollverlust
Nach den Ausschreitungen in Leipzig gibt es parteiübergreifend Kritik an den sächsischen Behörden. Bundesinnenminister Seehofer schweigt.
Als eine der Ersten erklärt Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), die Vorgänge in Leipzig seien „durch nichts zu rechtfertigen“. „Die Demonstrationsfreiheit ist keine Freiheit zur Gewalt und zur massiven Gefährdung anderer.“ Die Polizei dürfe „marodierenden Gewalttätern nicht das Feld überlassen“. Solche Szenen dürften sich in der Pandemie nicht wiederholen. Außenminister Heiko Maas (SPD) schließt sich an: Auch für ihn verließen die gewalttätigen Demonstrierenden „den Schutzbereich dieses Grundrechts“.
Auch SPD-Chef Saskia Esken nennt die Polizei „völlig überfordert“. Viele der Corona-Protestierenden seien „nur rechtsradikale Hetzer, Verleumder und Denunzianten“. Grünen-Chefin Annalena Baerbock zieht Parallelen zu Chemnitz und Heidenau. Polizei und Staat hätten Pandemie-Leugner und Neonazis gewähren lassen. „Das muss auf allen Ebenen aufgeklärt werden.“
Auch innerhalb der schwarz-rot-grünen Koalition in Sachsen brodelt es gewaltig. In einer Sondersitzung soll der sächsische Innenausschuss das Geschehen aufarbeiten. Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) will das Thema auch im Kabinett „in aller Deutlichkeit“ ansprechen: Der Staat habe sich „in Leipzig am Nasenring durch die Manege führen lassen“. Die Grünen fordern bereits den Rücktritt von Innenminister Roland Wöller (CDU). Sein „Nichthandeln“ sei „nicht mehr tragbar“.
Neonazis bei der Demo? Kretschmer schweigt dazu
Doch an Wöller und seinem Chef, Ministerpräsident Michael Kretschmer, perlt die Kritik vorerst ab. Am späten Nachmittag laden beide zu einer Online-Pressekonferenz. Zwei Statements sind es eigentlich nur, Fragen nicht erlaubt. Und die beiden CDU-Männer geben sich auffällig zurückgenommen. Kretschmer wirft den Protestierenden zwar „Hybris“ vor. Ihr Aufzug sei in diesen Pandemiezeiten „in höchstem Maße eine Gefährdung“ gewesen. „Für uns alle.“ Über die Neonazis, die angegriffenen JournalistInnen oder die überrumpelte Polizei aber verliert Kretschmer kein Wort.
Innenminister Wöller ebenso wenig. Er kritisiert vor allem das Oberverwaltungsgericht Bautzen, das den Corona-Protestzug am Samstag doch noch in der Innenstadt erlaubt hatte – nachdem die Stadtverwaltung diesen an den Stadtrand verlegt hatte. „Unverständlich“ sei die Entscheidung. Es sei klar gewesen, dass die Protestierenden sich nicht an Masken und Abständen halten würden. Das Gericht habe damit „die größte Coronaparty mit über 20.000 Teilnehmern genehmigt“.
Sonst aber verteidigt Wöller die Coronademonstration als „überwiegend friedlich“. Auch der Polizeieinsatz sei nicht zu beanstanden, gewalttätige Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten seien verhindert worden. „Der Polizei vorzuwerfen, sie hätte versagt, ist unsachlich und völlig abwegig“, betont Wöller. „Dies weise ich entschieden zurück.“
Kritik am Oberverwaltungsgericht Bautzen
Eine gewaltsame Auflösung einer friedlicher Demonstration stand und stehe nicht zur Debatte. Wie solle die auch aussehen, fragt Wöller. „Einsatz von Zwang gegen Senioren oder Wasserwerfer gegen Kinder?“ Nur gab es eben auch die Rechtsextremen – die Wöller außen vor lässt. Scharf verurteilt er dafür die brennenden Barrikaden in der Nacht nach der Demonstration in Connewitz.
In der sächsischen Politik, und darüber hinaus, wird auch dieser Auftritt teils mit Kopfschütteln quittiert. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) gibt sich da längst „stinksauer, wie man die kommunale Ebene wieder einmal alleingelassen hat“.
Tatsächlich stellen sich weiter viele Fragen. Durchaus auch an das Bautzener Oberverwaltungsgericht. Denn dass die „Querdenker“ Abstände und Mund-Nasen-Schutz ignorieren würden, war tatsächlich klar – es gehört zum Konzept und war bei vorherigen Protesten geübte Praxis.
Auch war nach der bundesweiten Mobilisierung absehbar, dass es nicht bei 16.000 TeilnehmerInnen bleiben dürfte, welche die Richter als Teilnehmerobergrenze ausgaben. Allein 40 Reisebusse aus dem ganzen Bundesgebiet rollten am Samstag nach Leipzig. Bemerkenswert ist auch, dass der Vorsitzende OVG-Richter Matthias Dehoust zur Redaktion der Sächsischen Verwaltungsblätter gehört – in denen das Coronavirus zuletzt als „nicht wesentlich schlimmer“ als die gewöhnliche Grippe bezeichnet wurde.
Polizei setzte Auflagen nicht durch
Sachsens grüne Justizministerin Katja Meier richtet die Vorwürfe dagegen an die Polizei und kritisiert, dass die Auflagen nicht durchgesetzt wurden. Dort hatte man sich verteidigt, dass der Demonstrationszug nur mit immenser Gewalt aufzuhalten gewesen wäre. Man habe auf Deeskalation gesetzt. Nur: Dass der Protesttag schwierig werden würde und auch Rechtsextremisten breit nach Leipzig mobilisierten, war bereits im Vorfeld unübersehbar. Dennoch wirkten die Beamten unvorbereitet und überrumpelt.
Am Sonntag reichte die Polizei Zahlen nach. Über das Wochenende sei es zu 102 Straftaten mit 89 Beschuldigten gekommen, darunter 14 Angriffe auf PolizistInnen und 13 weitere auf andere Personen. Es habe 31 Festnahmen und 140 notierten Verstöße gegen die Coronaschutzverordnung gegeben. Aufgeschlüsselt nach der Coronademo und dem Gegenprotest wurde dies nicht weiter. Auch Angriffe auf Medienvertreter wurden, obwohl teils auf Videos dokumentiert, nicht vermerkt. Verdi sprach von 32 verletzten JournalistInnen. Die Polizei bat, diese sollten sich melden – bisher habe man davon keine Kenntnis.
Die Frage bleibt, wie mit dem Coronaprotest weiter umgegangen werden muss – und das bundesweit. Denn ähnliche Szenen gab es ja bereits Ende August in Berlin. Kretschmer und Wöller kündigten an, das Versammlungsrecht an die sächsische Pandemieschutzverordnung anpassen zu wollen. Ansonsten appellierten sie an „Vernunft und Rücksicht“.
Coronaprotestierende feiern Demo als Erfolg
Bei den Organisatoren um die „Querdenken 711“-Initiative aus Stuttgart ist darauf indes nicht zu hoffen. Sie feierten den Samstag als Erfolg. Man habe erfolgreiche Bilder produziert und eine „sehr freundliche und freundschaftliche Kooperation mit der Bundespolizei“ erlebt, erklärte deren Anwalt Markus Haintz. „We will win!“
Fragen nach den angereisten Neonazis wiesen die Organisatoren am Sonntag dagegen als „Denunzierung“ zurück. Man sei eine „friedliche, überparteiliche Bewegung“, distanziere sich von Rechts- wie Linksextremen, so eine Erklärung. Wer sich dem Protest anschließe, könne man weder wissen noch kontrollieren. Auch die NPD sei nicht verboten. „Wir sind nicht die politischen Erziehungsberechtigten der Demonstranten.“
Zu all dem schwieg am Sonntag einer: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Aus seinem Ministeriums wurde nur auf den „äußerst heterogenen“ Charakter des Coronaprotests verwiesen, in dem Einzelne „Gewalt zur Verwirklichung ihrer Ziele einsetzen“. Allgemeine Aussagen zum Protestgeschehen könnten aber bisher nicht getroffen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl