Debatte kürzere Arbeitszeiten: Ohne Muße keine Freiheit
Die IG Metall fordert kürzere Arbeitszeiten. Damit stößt sie eine längst fällige Diskussion über Lebenszeit im Neoliberalismus an.
Im derzeitigen konformistischen liberal-neoliberalen Politklima wird Tarifrunden der Charakter von Ritualen zugeschrieben und Gewerkschaften der Charme von Dinosauriern und Reliquien. Derlei Kurzschlüsse aber straft die IG Metall mit ihrer jüngsten Tarifforderung als dem Ressentiment geschuldeten Bieder- und Stumpfsinn ab.
Gestützt auf die glänzende Ertragslage in der Metall- und Elektroindustrie fordert die IG Metall sechs Prozent mehr Lohn. Das ist traditionelle Gewerkschaftspolitik. Aber eine zweite Forderung ist von ganz anderem Kaliber und weist weit über traditionelle Politik hinaus.
Eine Umfrage, an der sich über 600.000 Metallarbeiter beteiligten, ergab, dass 57 Prozent der Befragten länger arbeiten (müssen) als die 35 Stunden, die der geltende Tarifvertrag vorsieht. Und 82 Prozent wünschen, ihre Arbeitszeit vorübergehend zu verkürzen. Jörg Hofmann, der Erste Vorsitzende, und die Führung der IG Metall lesen dieses eindeutige Votum mit Recht als „Wunsch nach mehr Selbstbestimmung“ bei der Arbeitszeit, um diese dem „Leben“ anzupassen.
Die Gewerkschaft fordert für alle Beschäftigten, die Arbeitszeit ohne Begründungszwang auf bis zu 28 Stunden pro Woche zu reduzieren. Nach zwei Jahren sollen die Beschäftigten den Anspruch haben, wieder Vollzeit arbeiten zu können. Dieselbe Regelung soll auch für Schichtarbeitende und Beschäftigte in gesundheitlich besonders belastenden Jobs gelten. Für Beschäftigte mit Kindern unter 14 Jahren soll es monatliche Ausgleichszahlungen von 200 Euro geben, für Schichtarbeiter 750 Euro pro Jahr für den Minderverdienst.
Die heilige Kuh „Freiheit“ der Unternehmen
Noch vor Beginn der Verhandlungen warnte die FAZ am 27. Oktober 2017 die IG Metall vor dem Schritt auf „gefährliches Terrain“ und erinnerte an die Kosten des zwanzig Jahre dauernden Kampfes zur Durchsetzung der 35-Stundenwoche und den 2003 nach sechs Wochen abgebrochenen Streik, um diese Wochenarbeitszeitverkürzung auch im Osten des Landes zu erkämpfen, wo bis heute 38 Stunden pro Woche gearbeitet werden.
Die „Freiheit“ der Unternehmen, die Arbeitszeit nach Auftrags- und Konjunkturlage – in bestimmtem Rahmen – flexibel zu handhaben, ist eine heilige Kuh der kapitalistischen Marktwirtschaft und die „Zeitsouveränität“ des „freien“ Lohnarbeiters ein rotes Tuch für den Marktradikalismus: „Es passt nicht zu den Gegebenheiten und Anforderungen unserer Zeit, immer weniger zu arbeiten, aber womöglich noch immer besser leben und mehr Wohlstand erreichen, ja sogar erzwingen zu wollen. (…) Es stünde uns viel besser an, einmal ernsthaft die Frage zu prüfen, ob das deutsche Volk nicht bereit sein sollte, anstatt die 45-Stunden-Woche noch zu unterschreiten, wieder eine Stunde mehr zu arbeiten.“ Dies predigte der „Vater des Wirtschaftswunders“ und damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard am 13. Januar 1953.
Luitwin Mallmann, Geschäftsführer eines Arbeitgeberverbandes in NRW, meint 65 Jahre später immer noch, „Arbeitszeitverkürzungen“ bedrohten die „weltweit anerkannte Lieferverlässlichkeit“ der deutschen Industrie. Hinter so kapitaler Logik und durchsichtigen Interessen müssen elementare Vorstellungen von Autonomie und Freiheit des Individuums, wie sie zur Zeit der Aufklärung formuliert wurden und mittlerweile verfassungsrechtlich und menschenrechtlich garantiert sind, natürlich zurücktreten.
Die Vorstellungen, worin Freiheit und das Ziel des Arbeitens bestehen, waren unter Citoyens im 19. Jahrhundert ehrgeiziger und gehaltvoller als im heute vorherrschenden Liberalismus-Neoliberalismus. Sie reichten auf jeden Fall über mehr Wachstum, mehr Geld und mehr Konsum hinaus.
Die Schöpfung von verfügbarer Zeit
In einem genialen anonymen Traktat von 1821 hieß es dazu, in der Paraphrase von Karl Marx (1857/58): „Schöpfung von viel disposable time (verfügbarer Zeit, arbeitsfreier Zeit) für die Gesellschaft überhaupt und für jedes Glied derselben; diese Schöpfung von Nichtarbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige“. Deshalb will das Kapital den Menschen zwingen, „jetzt länger zu arbeiten, als der Wilde“ es tat.
Aber für die Arbeitenden und die Gesellschaft geht es darum, die Arbeitszeit „auf ein fallendes Minimum zu reduzieren, und so die Zeit aller frei für ihre Entwicklung zu machen. (…) Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen“; und die bestand für Marx wie für seinen bürgerlichen Gewährsmann nicht darin, zu arbeiten und zu konsumieren. Das Ziel des Arbeitens ist es vielmehr, frei zu sein „für die Entwicklung einer individuellen Anlage“.
Leben meint mehr als Arbeit – für Marx wörtlich: „Selbstverwirklichung, (…) reale Freiheit“ und „Glück“ jenseits der historischen Formen von Sklaven-, Fron- oder kapitalistischer Lohnarbeit. Insofern fällt die aktuelle Debatte über die aufgeklärt-emanzipatorische Arbeitszeitforderung der IG Metall hinter das zurück, was vor 200 Jahren gedacht worden ist. Es geht abwärts voran mit der Verwirklichung der kultur- und menschenfeindlich-kapitalen Logik, wonach wer Arbeit hat, keine Zeit hat und wer Zeit hat, arbeitslos ist.
Der bornierte Sektenglaube, wonach Arbeit, Markt und Wachstum automatisch für Freiheit bürgen, ist relativ jung. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit galt die elitäre Auffassung, dass Arbeit Zwang sei und deshalb eines freien Bürgers unwürdig. Nur in Muße und abseits der wirtschaftlichen Effizienz- und Verwertungszwänge entfalten sich Bildung, Lebenskultur und Geschmack – bei Aristoteles wie bei Schiller und Humboldt. Marx entzog dieser elitären Vorstellung die Grundlage und erkannte den Schlüssel zu Selbstverwirklichung und Freiheit – für alle.
Mit ihrer Forderung nach „Arbeitszeiten, die zum Leben passen“ erweist sich der vermeintliche Dinosaurier IG Metall als lebendiger als die seichten Vorbeter einer „sozialökologischen Wende“ im Gefolge „identitätsprogressiver Kapitalisten“.
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