Debatte Seehofer, der Sündenbock: Wir alle müssen zurücktreten
Die Rufe nach Rücktritt sind nur hilflose Reaktionen. Die Zivilgesellschaft hat versagt, denn Seehofer macht genau die Politik, für die er gewählt worden ist.
E r muss zurücktreten! Und sie erst! Und er sowieso! Egal ob es in den vergangenen zwei Wochen um Horst Seehofer, um Angela Merkel oder doch um Jogi Löw ging: Überall erschienen Nachrufe zu Lebzeiten.
80 Millionen Deutsche haben ihren Sommerferienjob als Sofa-Bundestrainer verloren. Jetzt spielen sie wieder Politikberater. Merkel muss weg, das ist nicht mehr nur ein AfD-Sprechchor oder ein Graffiti in Jena-Lobeda oder Berlin-Köpenick. Im Fall von Seehofers angekündigtem Rücktritt herrschte in linken Kreisen Vorfreude und Untergangslust: Sollen sie doch alle baden gehen.
Diese Haltung ist bequem. Ehrlich ist sie nicht.
Es war nicht ein Innenminister der CSU, der in den letzten Monaten versagt hat. Der hat bloß die Politik gemacht, für die er gewählt wurde. Versagt hat die demokratische Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft, wir.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Weil Seehofer, Merkel und Löw vorerst bleiben, wo sie sind, muss die Rücktrittsforderung nun an einen anderen Adressaten gerichtet werden: an uns, an die Zivilgesellschaft. Alle zurücktreten! Zumindest einen, besser gleich zwei Schritte.
Das Versagen der Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft hat es nicht geschafft, das apokalyptische Raunen in Deutschland, das gegen alle Fakten aufrechterhalten wurde, zum Verstummen zu bringen, durch Solidarität zum Beispiel. Sie hat es zugelassen, dass Vertreter von Volksparteien Seenotrettung als „Shuttle-Service“ bezeichnen. Und ja, das Versagen der Zivilgesellschaft zeigt sich in der Sprache und nicht in Gesetzesentwürfen.
Es gab in den vergangenen Jahren nur wenige Mobilisierungen gegen den Rechtsruck, zu denen mehr als nur die üblichen Verdächtigen kamen. Es gab keinen Aufstand gegen die fortgesetzte Beschneidung des Grundrechts auf Asyl, das in der öffentlichen Debatte von einem Anspruch zu einem Almosen verkommen ist. Bis auf ein paar Aktivisten auf dem Meer hat die Zivilgesellschaft es versäumt, sich voll hinter das Asylrecht zu stellen.
Parlamentarische Politik aber war immer sensibel für Druck von unten, auch und gerade unter der aktuellen Bundeskanzlerin. Alle großen Entscheidungen, die von der Ära Merkel über den Tag hinaus bleiben werden, sind Ergebnisse gesellschaftlicher Bewegungen. Merkel hat immer nur reagiert und politisch nachvollzogen, was Jahre oder Jahrzehnte vorher erkämpft wurde: Die Abschaffung der Wehrpflicht ist ein später Erfolg der Friedensbewegung, der Atomausstieg begann nicht in Fukushima, sondern in Gorleben, und die Ehe für alle ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes um Gleichberechtigung.
Beim Streit ums Asylrecht dagegen hat die Zivilgesellschaft nur mit Empörung reagiert, ohne dass daraus politisch etwas folgte. Warum?
Weil die Vorstellung einer Zivilgesellschaft, die in ihrem Humanismus geeint ist, selbst naiv ist. In einer gespaltenen Gesellschaft, deren Klassen hermetischer sind als eine Transitzone, muss die Hegemonie in Debatten wie der um das Asylrecht erkämpft werden. Diesen Kampf verliert der fortschrittliche Teil der Zivilgesellschaft gerade, jeden Tag ein bisschen mehr.
Blick in den Spiegel
Auch deshalb, weil sich auch manch liberaler Bürger entweder offen oder heimlich weniger Flüchtlinge in Deutschland wünscht. Aber Seehofer die Drecksarbeit machen lassen und sich dann über ihn aufregen, das ist bigott. Manch einer, der in diesen Tagen in den Spiegel schaut (und damit ist nicht die politische Illustrierte gemeint) und unter dem kalten Licht im Badezimmer ehrlich zu sich selbst ist, wird einen kleinen CSU-Horst entdecken. Dort, am Haaransatz.
Aktuell gibt es keine Alternative zu Merkel und Seehofer in der Migrationsfrage. Die SPD ist zu sehr mit der Flucht ihrer Wähler beschäftigt, die Linke vertritt keinen Internationalismus, die Grünen wollen mal die Partei des Humanismus sein und sind dann doch wieder für die Benennung sicherer Herkunftsländer. Und im progressiven Teil der Zivilgesellschaft herrscht Fassungslosigkeit und Ohnmacht vor der Weltlage.
Denn während sich die Regierung auf einen Kompromiss einigt, der kein Kompromiss ist, sondern eine Radikalisierung, bleibt die Welt nicht stehen. Während sich CDU und CSU nachts in den Parteizentralen treffen, steigen Menschen in Libyen in wacklige Boote, ertrinken im Mittelmeer und fliehen immer mehr Syrer vor den Bomben Assads und Putins.
Ertrunken im Mittelmeer
1.000 Menschen sind in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken. Wie leicht so ein Satz von der Hand geht und wie unfassbar er dabei ist. Die Antwort der Bundesregierung und der EU: Deals mit Autokraten, Kriminalisierung von Hilfe auf dem Mittelmeer. Lager an der deutschen Grenze.
Man kommt sich komisch vor, das zu schreiben: Diese 1.000 Menschen haben die gleichen Menschenrechte wie wir. Ihnen zu helfen ist eine Pflicht. Moralische Argumente sind unter Verdacht geraten. Auch das ist ein Ergebnis der Radikalisierung der Mitte.
Europa ist kein Raum für Frieden und Freiheit mehr, sondern für die Verteidigung von Privilegien. Es geht nicht um Rechtspopulismus, das war schon immer ein schlechter Begriff. Es geht um Rechtsradikalismus. In Polen wird der Rechtsstaat abgeschafft, in Österreich bedroht eine Regierung nach CSU-Vorbild die Pressefreiheit, in Ungarn regiert ein Antisemit. Und in Deutschland zerlegen sich die Volksparteien selbst.
All das ergibt eine riesiges politisches Vakuum, innerhalb wie außerhalb des Parlaments. Man muss es nur füllen. Aber womit?
Ein politisches Projekt muss her
Will der progressive Teil der Zivilgesellschaft wieder handlungsfähig werden, muss auf Empörung und Ohnmacht ein politisches Projekt folgen. Das ist nach dem historischen Niedergang der Linken auch 30 Jahre später nicht absehbar. Am Nationalstaat und den Bürgerrechten in seinen Grenzen festzuhalten, das kann es nicht sein.
Weil das kompliziert ist, taugt Seehofer als politischer Sündenbock. Der hat auch keinen Masterplan, auch wenn er so tut. Im Streit der Union geht es nicht um eine vermeintliche Flüchtlingskrise, das ist nur der Anlass, sondern um eine Krise des Nationalstaats und seiner Parteien.
Die große, nicht wirklich befriedigende Antwort auf die Herausforderung der Migration ist: Offene Grenzen für Kapital und Informationen, aber nicht für Menschen, das funktioniert nicht. Heute kommen Turnschuhe leichter über das Mittelmeer als Menschen in Booten. Aber das wird nicht so bleiben.
2015 wird sich wiederholen, Migranten werden sich dann nicht von Transitzentren aufhalten lassen. Diese Erkenntnis ist für den progressiven Teil der Gesellschaft unbequem. Aber zurücktreten können wir als Zivilgesellschaft nicht, auch wenn wir das vor lauter Ohnmacht gerne wollten. Aber wir können zurücktreten. Das Einzige, was gegen Ohnmacht hilft, ist Selbstermächtigung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren