Debatte NPD-Verbot: Die Karlsruhe-Performance
Das Bundesverfassungsgericht definiert das Grundgesetz immer wieder neu. Das verunsichert die Politik und freut die Bürger.
G anz Deutschland rätselt: Wird das Bundesverfassungsgericht die NPD verbieten, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird? Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer kennt die Antwort: „Das hängt von den Maßstäben ab, die das Bundesverfassungsgericht erst noch entwickeln muss“, sagte er jüngst in einem Interview.
Das ist unbefriedigend und doch präzise. Derzeit weiß niemand, welche Voraussetzungen Karlsruhe für ein Parteiverbot verlangt. Eine konkrete Gefahr für die Demokratie in ganz Deutschland? eine abstrakte Gefahr für Minderheiten in bestimmten Regionen? Alles ist vertretbar, alles ist plausibel.
Hassemer fasst die Ungewissheit in ein schönes Bild: „Wenn die Beratungen beginnen, stößt das Verfassungsgericht gewissermaßen vom Land ab, wie ein Schiff, es begibt sich auf eine Reise. Und der Witz dieser Beratungen ist, dass man vorher nie genau weiß, wo man ankommen wird.“
Für die Ehrlichkeit ist ihm zu danken. Amtierende Verfassungsrichter legen selten offen, dass die Maßstäbe, nach denen sie urteilen, meist erst in Karlsruhe gedrechselt werden. Ein Blick ins Grundgesetz genügt in der Regel eben nicht, um zu wissen, wie das Gericht entscheiden wird – nicht nur bei Parteiverboten.
Neue Herausforderungen, neue Regeln
Die SPD hat den Bundestag aufgefordert, einen Verbotsantrag gegen die rechtsextreme NPD zu stellen. Noch nie seien die Aussichten auf einen Erfolg eines solchen Antrags so gut gewesen wie jetzt, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, am Freitag in einer Debatte im Bundestag.
Die NPD stehe in der Kontinuität der nationalsozialistischen Ideologie. „Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei“, sie sei auch antisemitisch und demokratiefeindlich. Oppermann zeigte sich „absolut sicher“, dass Bundesregierung und Bundestag in dieser Sache eine klare Haltung einnehmen müssten - für oder gegen einen Antrag.
Zuvor warnt der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl vor den Konsequenzen des möglichen Scheiterns eines Verbots. Würden das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Antrag ablehnen und „damit der NPD ungewollt ein Gütesiegel der Verfassungsmäßigkeit aussprechen“, wäre dies verheerend, sagte Uhl in einem Interview der Nachrichtenagentur dapd. (dpa/dapd)
Das liegt schon am Wesen von Verfassungsbestimmungen, die meist wohlklingend, aber eher unbestimmt sind. Die Richter müssen sie konkretisieren, um sie anwendbar zu machen. Für neue Herausforderungen erfinden sie neue Regeln wie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung oder den Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze im Ausland.
Auch die Anwendung der Maßstäbe lässt ihnen viel Freiheit. So kann der Gesetzgeber zwar in jedes Grundrecht eingreifen – durch ein Gesetz, das dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügt. Was aber verhältnismäßig ist, das bestimmen am Ende die Verfassungsrichter.
Gerne betonen die Karlsruher Richter, dass sie durch die bisher 130 Bände eigener Urteile weitgehend gebunden seien. Doch bei Bedarf können sie jederzeit ihre Rechtsprechung ändern und tun dies auch – jüngst etwa zur Homo-Ehe (muss jetzt gleichgestellt werden), zur Bundeswehr im Innern (darf nun doch militärische Waffen nutzen) oder zu Überhangmandaten bei der Bundestagswahl (nur noch etwa 15 sind erlaubt).
Der Gesetzgeber hat also keine Chance, es dem Bundesverfassungsgericht immer Recht zu machen. Denn er kann vorab oft einfach nicht wissen, wie die Richter entscheiden werden.
ist promovierter Verfassungsjurist und rechtspolitischer Korrespondent der taz. In diesen Tagen erscheint sein Buch „Der Schiedsrichterstaat – Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“
bei Wagenbach.
Dummer Gesetzgeber
In der Öffentlichkeit kommen die regelmäßigen Rüffel aus Karlsruhe allerdings ganz anders an. Dort geht man davon aus, dass es klare Vorgaben des Grundgesetzes gibt und das Verfassungsgericht dafür sorgt, dass diese eingehalten werden.
Wenn ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wurde, kann dies demnach nur drei Ursachen haben. Entweder die Politiker haben fahrlässig nicht das Grundgesetz gelesen oder sie waren zu dumm, das Grundgesetz richtig zu verstehen oder – am schlimmsten – sie haben das Grundgesetz sogar bewusst missachtet.
Die Popularität des Bundesverfassungsgerichts wird so immer wieder neu gefestigt. Dass ein Gericht der Politik die Grenzen aufzeigt und sagt, wo es lang geht, ist in Deutschland ein attraktives Konzept. Zwar gibt es in vielen Ländern Verfassungsgerichte, aber wohl in kaum einem Staat wird der kontrollierende Eingriff der Verfassungsrichter in den politischen Prozess so goutiert und gefordert wie in Deutschland.
Vermutlich ist dies ein Indiz dafür, dass die Deutschen mit Demokratie, Pluralismus und politischem Streit immer noch etwas fremdeln und sich lieber an das scheinbar eherne (Verfassungs-)Recht halten.
Gütesiegel „geprüft in Karlsruhe“
Dabei macht das Bundesverfassungsgericht von seiner Macht durchaus zurückhaltend Gebrauch. Auch in Themenfeldern, in denen Karlsruhe regelmäßig interveniert, wie bei der Inneren Sicherheit oder der europäischen Integration, bekommt die Politik im Kern und am Ende meist, was sie will. Und das noch verbunden mit dem Gütesiegel „geprüft in Karlsruhe“.
Das Verfassungsgericht bemüht sich auch sehr um eine lebendige Demokratie. Es stärkt die Rechte des Bundestags gegenüber der Regierung, es verteidigt die Rechte der Opposition gegenüber der Mehrheit, vor allem aber schützt es die Rechte außerparlamentarischer Akteure vor zu viel Gängelung.
Seine Interventionen sind oft symbolisch und zielen auf Ausgleich. Durch teils nur kleine Korrekturen an umstrittenen Gesetzen werden Kritiker eingebunden. Und selbst wenn ein angegriffenes Gesetz bestätigt wird, gibt Karlsruhe den politisch Unterlegenen das Gefühl, dass auch ihre Anliegen im Staat ernst genommen werden.
Schiedsrichter beliebter als die politischen Player
Das Bundesverfassungsgericht trägt also viel zur Legitimation des demokratischen Systems in Deutschland bei. Allerdings oft auf Kosten der politischen Akteure, die es – so die Inszenierung – an ihre grundgesetzlichen Pflichten erinnern muss. Deutschland wurde so zum Schiedsrichterstaat, bei dem die Schiedsrichter deutlich beliebter sind als die politischen Player.
Faktisch ist aber auch das Bundesverfassungsgericht ein politischer Akteur, ausgestattet mit Veto- und übergeordneten Gestaltungsrechten, mit der Fähigkeit, den politischen Diskurs zu prägen, Themen zu setzen, Werte zu definieren und Interessen zu versöhnen.
Wie der Bundesrat nicht nur Länderinteressen wahrt, steht das Bundesverfassungsgericht nicht nur für bloße Rechtsanwendung. Vielmehr ist der Bezug auf das Grundgesetz vor allem eine Performance, bei der alle mitspielen. Alle lesen ins Grundgesetz hinein, was sie politisch für sinnvoll halten und am Ende entscheidet das Karlsruher Gericht, wie das Grundgesetz „richtig“ ausgelegt wird. Die Verfassungsrichter sind insofern eine Art Rechtsdarsteller.
Grundfrage der Demokratie
Auch die anstehende Entscheidung zum Parteiverbot geht weit über die konkrete Frage hinaus, ob die NPD verboten wird oder nicht. Die Definition des Maßstabs wirft grundsätzliche Fragen nach der Idee unserer Demokratie auf. Sollen nur Wohlmeinende teilhaben, gibt es Toleranz für die Intoleraten? Haben gefährdete Minderheiten wie Migranten einen Anspruch auf Ausschaltung der politischen Klimaverschmutzer?
In Deutschland ist es üblich, dass solche politischen Grundentscheidungen nicht zwingend im Parlament getroffen werden. Vielmehr ist auch das Bundesverfassungsgericht ein akzeptiertes politisches Entscheidungsgremium (solange das Gericht behauptet, dabei „Recht“ zu sprechen).
Die politische Debatte sollte sich daher schnell von der fruchtlosen Prognose-Frage lösen, wie die Richter wohl am Ende entscheiden werden. Viel wichtiger ist die Frage, wie die Richter entscheiden sollen! Darüber müssen wir jetzt diskutieren. Schließlich sind die Verfassungsrichter de facto unser oberstes politisches Organ.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?