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Debatte Massenmord in NizzaEin Gebot der Vernunft

Rudolf Balmer
Kommentar von Rudolf Balmer

Auch nach dem Anschlag von Nizza beginnt wieder die reflexhafte Suche nach rationalen Erklärungen. Aber was, wenn es die nicht gibt?

Der Schuldige war schnell ausgemacht Foto: dpa

E s gibt Situationen wie die Attentate in Paris oder jetzt in Nizza, in denen auch ein hartgesottener Polizeibeamter von Emotionen überwältigt wird. Niemand wird ihm diese menschliche Regung vorwerfen. Wie aber sollen Journalisten mit diesen Gefühlen umgehen? Sie sollen ja die schnell zusammengesammelten Bruchstücke der von oft direkt betroffenen und noch schockierten Dritten überlieferten Berichte in einen einigermaßen verständlichen Zusammenhang stellen.

Doch wie soll man faktisch korrekt, nüchtern und rational eine Logik in Geschehnisse bringen, deren Irra­tio­nalität sich unserer banalen Wahrnehmung entzieht? Klischees und Vereinfachung liegen nahe, im Fall einer Tragödie auch die emotionale Übersteigerung.

Seit Längerem hat sich als beliebte und auch praktische professionelle Methode das „storytelling“ durchgesetzt: Man nimmt ein paar Aussagen oder Zitate, eine passende Beschreibung der Umgebung als Schauplatz und erzählt dann eine Geschichte, die je nach Thema schrecklich, rührend oder anrüchig, bewegend oder amüsant sein soll, aber in jedem Fall plausibel klingt – und vor allem irgendwie einen Sinn ergibt. Im schlimmsten Fall nimmt der Erzähler es mit den Fakten nicht genau, wenn sie nicht ganz dem roten Faden oder Leit­motiv seiner Story entsprechen.

Doch zurück zum Massenmord von Nizza am 14. Juli. Um einen solchen geht es, das darf als gesicherte Information betrachtet werden. Es steht schließlich fest, dass es sich bei der tödlichen Raserei nicht um einen Unfall handelte, sondern um eine vorsätzliche, zweckdienlich vorbereitete Tat, an der zumindest ein Individuum beteiligt war, dessen Identität ebenfalls feststeht. Der Rest bleibt im Verlauf der Ermittlungen und Recherchen zu überprüfen.

Trotzdem wurde das vorsätzlich begangene Verbrechen sofort von allen als „islamistischer Terroranschlag“ bezeichnet. Das macht „Sinn“ und kommt dem Bedürfnis nach einer Erklärung entgegen. Für viele ist es vermutlich leichter, sich zu sagen, dass da eine zwar nebulöse, aber doch in ihren Zielsetzungen und ihrer Strategie logisch vorgehende Organisation am Werk sei.

Die Versuchung war zu groß

Die Idee, dass womöglich ein mitten unter ihnen lebendes Individuum aus nicht nachvollziehbaren Gründen einfach ausrasten und zu einer Wahnsinnstat dieser ungeahnten Dimension fähig sein könnte, ist aufgrund ihrer Irrationalität schlicht zu beängstigend. Aber auszuschließen ist sie nicht.

Die bequemen Ver­einfachungen können eine unvorhergesehene Dynamik bekommen

Die Versuchung, die Bluttat von Nizza sofort dem islamistischen Terrorismus zuzuordnen, war für die Journalisten und Politiker also einfach zu groß. Nicht nur für sie lag diese Erklärung auf der Hand: Warum soll – vor allem in einem schon fast permanenten Klima der Angst vor Attentaten in Paris – etwas, das unweigerlich an frühere islamistische Terroranschläge erinnern muss, nicht zwangsläufig ebenfalls ein Akt der dschihadistischen Terroristen sein?

Und wenn die ersten Untersuchungen nicht vollkommen in dieses schnell gezeichnete Schema passen, kann man die Darstellung auch noch nachträglich korrigieren. Wie es Premierminister Manuel Valls tut, der nun mangels konkreter Anhaltspunkte für islamistische Kontakte des Täters von einer „sehr schnellen Radikalisierung“ spricht.

Vielleicht stellt sich im Nachhinein heraus, das dies zutrifft. Aber das wissen wir heute nicht, auch wenn inzwischen der IS sich mit der Abscheulichkeit einer Aktion eines „Soldaten des Kalifats“ brüstet. Sicher aber kann es fast eine Erleichterung sein, eine derartige Erklärung samt Schuldzuweisung serviert zu bekommen.

Dramatische Folgen

Möglicherweise hat ja auch Valls aufgrund der gerichtlichen Untersuchung zuletzt recht. Ausgerechnet er kritisiert nun aber den demagogischen Missbrauch der Attentatsdrohung als „Trumpisierung“ in den Köpfen. Donald Trump dient da als Archetyp der auf Hass schaffende Klischees verzerrten Darstellung von reellen oder angeblichen Problemen. Und damit kommen wir zu den bedenklichen Konsequenzen. Denn das „storytelling“ kann in der Realität dramatische Folgen haben. Die so bequemen Vereinfachungen und Verdrehungen haben ein Eigenleben – und können eine eigene unvorhergesehene Dynamik bekommen.

Die Zuschauer, Hörer und Leser schätzen den Unterhaltungswert dieser vereinfachten Form der Information. Im Zweifelsfall gibt ihnen der Zugang zum Internet die Möglichkeit zur Überprüfung durch andere überlieferte Kommentare oder Fakten. Aber Manipulationen lauern überall, vor allem in der Gerüchteküche des Internets mit seinen Verschwörungstheoretikern und zum Teil perversen Verdrehern der Realität. Diese wissen, dass viele Leute letztlich nur für bare Münze nehmen, was sie als „wahr“ glauben wollen.

Das Gespenst „fünfte Kolonne“

Und genau darin liegt die Gefahr. Wer genau ist der „Feind“ in diesem „Krieg“ gegen den „islamistischen Terror“, für den nun Präsident François Hollande und sein Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian die „Patrioten“ für die Bildung von Reserveeinheiten mobilisieren? Schon seit Monaten geistert durch Frankreich das Gespenst einer islamistischen „fünften Kolonne“.

Zwei Tage vor dem Mordanschlag in Nizza hatte der Politologe Jean-Yves Camus in der Zeitung Libération die Vorahnung geäußert, dass „im Fall neuer Attentate“ ultrarechte Kreise mit gewaltsamen Aktionen gegen Muslime in Frankreich als „Replik“ reagieren könnten. Das wird von einer unspezifischen, aber sehr martialischen Rhetorik von Valls („Wir werden diesen Krieg gegen den Terrorismus gewinnen“) nur bestärkt.

Die dramatische Perspektive wäre dann nicht ein Krieg gegen IS und Konsorten, sondern ein Bürgerkrieg gegen MitbürgerInnen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Glaubens pauschal einem vorgefertigten Feindbild entsprechen. Wie das im Sinne von politischen Extremisten und religiöser Fanatiker funktionieren kann, weiß man aus der Geschichte.

Mehr denn je ist es darum ein Gebot der Vernunft für uns Journalisten, angesichts der unfassbaren Tragödie an der Realität festzuhalten – auch, wenn eine gute Geschichte manchmal nur wenige Fakten braucht.

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Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
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13 Kommentare

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  • Was für ein klarer, umsichtiger Text! Wäre da nicht dieser Satz: "Aber Manipulationen lauern überall, vor allem in der Gerüchteküche des Internets mit seinen Verschwörungstheoretikern und zum Teil perversen Verdrehern der Realität." - Ein kritischer, besonnener Journalist wie Sie, Herr Balmer, hätte den Seitenhieb gegen "Verschwörungstheoretiker" nicht nötig gehabt. Es ist - wie Daniele Ganser zurecht bemerkt (http://www.heise.de/tp/artikel/48/48770/1.html) - ein "Kampfbegriff", der Diskussionen über die Sache abwürgen soll. Es wäre ein Kennzeichen kritischer linker Journalisten und Medien, diesen Kampfbegriff konsequent nicht zu verwenden. Spinner von der Sorte der "Aluhüte" gibt es immer, aber die sollten klar von kritischen Geistern unterschieden werden können, die den "Spin" der Macht infrage stellen.

  • 3G
    33324 (Profil gelöscht)

    Es ist sehr ehrenwert von der taz, dass sie bei jeder dieser unsäglichen Taten, mit denen wir (die Öffentlichkeit) in den vergangenen Jahren konfrontiert waren, zuerst einmal feststellte, dass man sich nicht zu früh auf einen islamistischen Hintergrund der jeweiligen Tat festlegen sollte ohne genauere Fakten zu kennen. Doch leider hatten sich die islamistischen Tatmotive dann in aller Regelmäßigkeit immer wieder bestätigt. So ist es auch nicht allzu verwunderlich, wenn die breite Öffentlichkeit zuallerst eine islamistische Täterschaft vermutet. Dazu braucht es dann auch keinen entsprechenden Hinweis der Medien mehr. Leider.

    • @33324 (Profil gelöscht):

      Und leider ist die Bestätigung islamistischer Motive der Grund auch dafür, dass sich Islamophobie breit macht. Wenn Mitglieder einer bestimmten Religion regelmäßig im Namen ihrer Religion Angst und Schrecken verbreiten und Verbrechen verüben, dann entwickelt sich eine Aversion. Da hilft es auch nicht, wenn gebetsmühlenartig von anderen gesagt wird "das hat nichts mit dem Islam zu tun" oder suggeriert wird, es könnte auch ganz andere Motive haben. Klar könnte es, aber hat es bisher nie gehabt.

  • 3G
    33523 (Profil gelöscht)

    Im Grunde haben Sie recht. Das Storytelling das grade der Spiegel schon seit sehr langer Zeit betreibt ist der direkte Weg in eine Medienwelt in der wir subjektiv geschilderte Einzelschicksale unter Fakten verbuchen. Das nun aber grade in der besonders Meinungsstarken taz gegen subjektive Berichterstattung geschrieben wird ist doch etwas verwunderlich.

     

    Ob man nach den Erfahrungen welche die Franzosen in den letzten Jahren gemacht haben Rassist sein muss um direkt die Islamisten unter Verdacht zu haben bezweifle ich stark. Unangenehme Erfahrungswerte sind nicht das gleiche wie blanker Rassismus.

    Sicher sollte man nichts überstürzen, dass hat sich im Fall Breivik auch nicht grade bewährt aber der Reflex ist verständlich und letztlich auch menschlich.

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)
    • @571 (Profil gelöscht):

      bedenke, frei nach Schiller's Wallenstein:

       

      Spät kommt Ihr, Stimme der Vernunft - doch ihr kommt!

      Der weite Weg,

      entschuldigt euer Säumen.

  • Wäre der Täter ein Franzose mit einwandfrei französischen (Bretonen oder Elsässer können auch noch angehen) Grosseltern (wie auch der GermanWings-Pilot ein waschechter Deutscher war, soweit ich mich erinnere) - français de souche heisst das hier - wäre er eben ein Amokläufer. Und dass ISIS alles, was von nun an in der Welt passieren kann, in Beschlag nimmt, ist auch nichts weiter als unumgänglich!

  • Schrecklich dieser Anschlag bei dem so viele Kinder zu Schaden kamen. Leider kann so ein Anschlag sich immer wiederholen, man braucht ja nicht einmal eine Bombe, ein einfacher LKW genügte.....

  • Gebot der Vernunft - ok!

     

    Ja. Einfach den Rand halten - fein.

    "…Das macht „Sinn“ und kommt dem Bedürfnis nach einer

    Erklärung entgegen.…" - Gebongt!

    Jau & eben das - doch doch -

    Vermiede verläßlich sicher & zudem -

    Schlechtes Deutsch zu schreiben!

    Dann mal - bis zum nächsten Mal!

  • Erstaunlich viele Journalisten scheinen zu glauben, sie wären verhinderte Literaten.

     

    Geschichtenerzähler (englisch: storyteller) sind allerdings normalerweise Freiberufler, deren Berufswahl mit gewissen Unsicherheiten verbunden ist. Ob ein Publikum bezahlt für eine Geschichte, hängt schließlich nicht nur vom Talent des Erzählers ab. Womöglich werden deswegen so viele Möchtegern-Erzähler lieber angestellte Journalisten.

     

    Nein, es ist nicht Aufgabe von Tageszeitungen, Geschichten (oder gar Märchen) zu erzählen. Wer ein entsprechendes Talent zu haben glaubt, der sollte das in seiner Freizeit ausleben. In seiner Arbeitszeit sollte er Informationen sammeln, verifizieren und aufbereiten. Und zwar so, dass sie nicht wie eine Hollywoodlegende klingen, sondern wie ein Teil jener Realität, die wir alle mit zu verantworten haben.

     

    Das ist ein undankbarer Job, schon klar. Nur: Undankbar sind andere Berufe auch. Trotzdem sind sie wichtig. Wenn Journalisten die Grenze zwischen Fiktion und Realität so sehr verwischen, dass ihre Kunden nicht mehr unterscheiden können, was Lüge ist, was nur ein Irrtum und was eine Wahrheit, kann das tatsächlich "dramatische Folgen" haben. Deswegen gibt es einen Pressekodex – der leider in Zeiten, in denen alles erlaubt zu sein scheint, was niemand bei Strafandrohung verboten hat, oft nicht das Blatt Papier wert ist, auf dem er steht.

     

    Journalisten möchten gerne frei sein, sich nicht gängeln lassen. Dass ihre Freiheit sie zur Selbstkritik verpflichtet, wollen viele von ihnen nicht wahr haben. Es schränkt ihre Erfolgsaussichten ein, wenn sie verantwortungsbewusst handeln. Und dass man sich nicht einschränken lassen darf, auch nicht vom eigenen Gewissen, ist ideologisches Basiswissen heutzutage. Für Journalisten offenbar nicht weniger als für Politiker. Ich meine nicht nur Trump, Erdogan, Putin oder Assad, sondern auch an all diejenigen, die mit diesen Leuten dealen. Sie führen - auch in Sachen (Un-)Moral.

    • @mowgli:

      "An einer Seite Prosa -

      Arbeiten wie an einer Säule -

      So siehste aus."

      Kurt Tucholsky ;))

  • Natürlich spricht in diesem Zusammenhang niemand von den buchstäblich Millionen von Menschen, die Europäer in Nordafrika, Irak etc. ermordet haben und immer noch ermorden. Außer denen natürlich, die davon betroffen sind und die also meinen, sie wehren sich nur.

     

    Was wären schließlich schon 80 Tote bei einer Bombardierung in Syrien oder im Irak? Vernunft heißt hier auch, auf den gefährlichen Luxus eines Standpunktes zu verzichten und zu verstehen, dass der Terror, den wir hier jetzt erleben, seit vielen Jahren Alltag in diesen Ländern ist.

    • @Mustardman:

      Richtig: Als Madeleine Albright von einem nötigen Opfer zur Festigung der Demokratie und der "freien Welt" sprach, war die Rede von den Hunderttausenden verhungernder Kinder im Irak, nicht von einigen gefallenen US-Soldaten