Debatte Jamaika-Aus: Berlin ist nicht Weimar
Deutschland holt auf in Sachen politischer Unberechenbarkeit. Noch ist aber unklar, wie disruptiv Lindners Populismus auf die Politik wirkt.
N ach dem spektakulären Abbruch der Sondierungsverhandlungen in der Nacht auf Montag drängt eine sehr deutsche Frage wieder an die Oberfläche: Drohen Weimarer Verhältnisse?
Aber ist das überhaupt die richtige Frage?
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik musste der Ausweg aus gescheiterten Koalitionsoptionen mit Neuwahlen begangen werden. Regierungswechsel wurden relativ geordnet entweder durch Wahlen oder mittels Misstrauensvoten vollzogen, konstruktiven wie nicht konstruktiven. Regierungsfähigkeit war stets gegeben. Und nun drohen nach vierwöchigem Theater um die Sondierungsverhandlungen eine Neuwahl im Frühjahr, Ausgang ungewiss.
Ungewissheit bringen diese Verhältnisse nicht nur für die parteipolitischen Pokerspieler/innen, die Wahlkampfmanager/innen und all ihre medialen Begleiter/innen. Es sind auch reale politische Entscheidungen, die vertagt, Investitionen, die aufgeschoben werden. Die deutsch-französischen Pläne für die Veränderung der Europäischen Union liegen auf Eis, genauso wie zentrale Klimabeschlüsse – etwa der dringend notwendige Beschluss zum Ausstieg aus der Braunkohle – nicht vorangetrieben werden können. Die hegemoniale Kraft der Bundesregierung ist geschwächt. Das Vertrauen in die etablierten Parteien könnte in diesem Prozess gefährlich erodieren.
Die FAZ hat im Frühjahr in einer Expert/innen-Serie die Weimar-Frage gestellt. Allesamt attestierten die Autor/innen Deutschland gerade seiner Geschichte wegen ein stabiles politisches System. „Wie schnell sich ein politisches Klima wandeln kann“, warnte dennoch der Politikwissenschaftler Jürgen Falter, „zeigen die Erfolge der Populisten in Frankreich, Holland, Großbritannien, den Vereinigten Staaten oder Österreich. Die Anzeichen einer allmählichen Erosion der Grundfesten des demokratischen Systems im Westen sind unübersehbar – und Deutschland ist keine Insel.“
Die Unruhe, die den freien Westen schüttelt
Dennoch gilt der Satz, den der Schweizer Publizist Fritz René Allemann in der frühen Bundesrepublik geprägt hat und der in turbulenten Zeiten wie etwa nach der Wiedervereinigung immer wieder zitiert wurde: „Bonn ist nicht Weimar.“ Die deutsche Wirtschaft 2017 floriert, der Staatshaushalt hat Verteilungsspielraum. Und trotz wachsender Ungleichverteilung von Vermögen protestieren auf den Straßen keine Menschen, denen durch die Inflation das tägliche Brot fehlt.
Berlin ist nicht Weimar. Auch weil Deutschland aktuell keinen Sonderweg geht. Vielmehr kommt nun auch nachholend in Deutschland jene Unruhe an, die den freien Westen seit einigen Jahren schüttelt. Genau darin liegt das Problem. Und das ist größer als die Weimar-Frage.
Im November 2016, Donald Trump war gerade zum 45. US-Präsidenten gewählt worden, besuchte Barack Obama Berlin. Der Noch-Präsident führte lange Gespräche mit der deutschen Bundeskanzlerin. Im Wissen um die aufgeladene Stimmung nach der sogenannten Flüchtlingskrise forderte er die Deutschen auf, sie sollten Angela Merkel wertschätzen. Mitgebracht hatte er noch ein Gastgeschenk der besonderen Dimension: den Staffelstab für die Führung der freien westlichen Welt.
Angela Merkel wehrte sich schnell gegen diese Zumutung. Die Hoffnungsträgerin Europas und gleich der Demokratie an sich zu sein schien ihr vermessen. Ihrem Ansehen, insbesondere in der angelsächsischen Welt, die erst durch den Brexit, dann durch die Wahl Donald Trumps erschüttert wurde, schadete das nicht. Ihr Verweis auf die geteilte europäische Verantwortung qualifizierte sie umso mehr.
Die Worthülse vom „leader of the free world“ begleite sonst den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, „manchmal auch ohne ironische Konnotation“, schrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash im Guardian. Nun sei er verleitet, Angela Merkel diese Rolle zuzuschreiben. Die New York Times titelte: „Nach Donald Trumps Wahl bleibt Angela Merkel die letzte Verteidigerin des freien Westens.“
Die Kraft des Populismus
Populismus und Wirtschaftskrisen machen aus der Europäischen Union eine bedrohte Art, Donald Trump wütet in den Vereinigten Staaten, Recep Tayyip Erdoğan entfernt die Türkei immer weiter von den Werten des Westens: Inmitten dieser Verschiebungen der politischen Koordinaten erschien bislang das politisch wie wirtschaftlich stabile Deutschland als Insel der Seligen.
„Bleibt Merkel Kanzlerin?“, fragten zuletzt deshalb besorgte Kollegen aus Frankreich. Schließlich hängt an einer stabilen Merkel-Regierung auch die Zukunft des gemeinsamen Europa-Projekts. „Schafft es Angela Merkel, diese Verhandlungen jetzt mal zu ordnen?“, erkundigten sich US-Amerikaner, die trotz oder gerade wegen der Verhältnisse im eigenen Land auf den freien Westen hoffen. In der Nacht zu Montag hat nun auch Deutschland das Phänomen der Unberechenbarkeit politischer Prozesse erreicht.
Es ist kein Zufall, dass es ein Jungpolitiker wie Christian Lindner ist, der auf die disruptive Kraft des Populismus setzt. Der FDP-Chef ist noch nicht fest in das alte System der bundesrepublikanischen Politik eingebunden. Es fällt ihm leicht, sich den Spielregeln der Altparteien zu verweigern. Lindners Kalkulation war offensichtlich recht schlicht: Zur Wahl standen einerseits ein warmer Sessel in einem Ministerium innerhalb einer unerfreulich komplizierten Koalition und andererseits das Experiment, noch einmal auszuloten, welches Potenzial rechts der Union und links der AfD liegen geblieben ist.
Bislang waren es nur die völkischen Gestalten von der AfD, die den Impetus eines Donald Trump (USA) oder eines Viktor Orbán (Ungarn) ins politische Geschäft der Bundesrepublik getragen haben. Lindners Entscheidung geht nun wie eine zweite Schockwelle durch das Land.
Noch ist nicht klar, welche Folgen sein Spiel haben wird. Man muss aber Angela Merkel recht geben, die von einem „fast historischen Tag“ für Deutschland spricht. Welche zerstörerische Kraft die FDP in dieser Nacht der gescheiterten Sondierungen entfaltet hat, wird erst im Nachhinein bewertet werden können.
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