piwik no script img

Debatte Göttinger FriedenspreisJüdischer Dissens

Kommentar von Charlotte Wiedemann

Die Affäre um den Göttinger Friedenspreis handelt von Meinungsfreiheit und Repräsentanz. Der Zentralrat spricht nicht für alle.

Ein Kritiker des Preisträgers: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland (Archivbild 2015) Foto: Stefan Zeitz/imago

K ein anderes Milieu in Deutschland hat sich durch Einwanderung so sehr verändert wie das Judentum. Mehr als 90 Prozent der 200.000 Juden und Jüdinnen sind Migranten der ersten oder zweiten Generation. Und nur die Hälfte ist Mitglied einer Gemeinde. Nur für diese Hälfte kann also der Zentralrat der Juden sprechen in seiner Rolle als das zeremonielle Gegenüber von Politik und Mehrheitsgesellschaft.

Es scheint mir sinnvoll, die Kontroverse um den Göttinger Friedenspreis, der am Samstag an die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost vergeben wird, unter dem Aspekt der Repräsentanz zu betrachten. Es geht ja keineswegs nur darum, welche Strategie gegen die israelische Besatzung legitim ist. Sondern es geht um Meinungsfreiheit: Wie abweichend dürfen Juden und Jüdinnen denken? Und kann im Land der Schoah eine Vertretung jüdischer Belange nur so aussehen, dass eine offizielle Stimme spricht und dabei den Rahmen des Sagbaren absteckt?

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats, nannte die geplante Auszeichnung „einen Schlag ins Gesicht der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Israel“. Die Formulierung wirft ein logisches Problem auf, denn auch die Preisträger gehören als Juden zu dieser Gemeinschaft; einige sind sogar Mitglieder von Gemeinden. Doch sie werden von Schuster nicht als Juden gedacht (neudeutsch „gelesen“), sondern nur als Gegner. Auch die Opponenten aus der Mehrheitsgesellschaft taten seltsamerweise so, als ginge es hier gar nicht um Juden (teils zugleich Israelis) – als seien dies also keine Menschen, für welche die Schoah und aller Antisemitismus eine existenzielle Bedeutung hat.

Eine Mitbegründerin der Jüdischen Stimme, die Schriftstellerin Ruth Fruchtman, eingetragen bei der Jüdischen Gemeinde Berlin, beschreibt in ihrem Roman „Jerusalemtag“, was es für eine Jüdin ihrer Generation (sie ist über 70) bedeutet, gegen die Okkupation zu kämpfen. Welche inneren Kämpfe es mit sich bringt, womöglich lebenslang, sich in einer Weise zu positionieren, die manchmal selbst von der eigenen Familie nicht verstanden wird.

Wer spricht?

Wer spricht also für wen und zu wem? Der jüdische Zentralrat ist zwar repräsentativer als das muslimische Organ dieses Namens, aber er ist eben nicht die Stimme aller Juden. Seine Vertreter müssen Widerspruch aushalten können, ohne ihn zu diffamieren.

Es ist nachvollziehbar, wenn die ältere Generation westdeutscher Juden an einer Position festhalten will, die sich nach 1945 herausgebildet hat. Die kleine Schar Überlebender, die sich damals im Land der Täter niederließ, gegen den Willen der internationalen jüdischen Organisationen, war lange isoliert. Als die Alliierten mit dem aufkommenden Kalten Krieg ihre Entnazifizierungspolitik einstellten, verloren die Juden ihren wichtigsten Verbündeten. Sie blieben quasi mit der Bundesregierung allein und wurden allmählich zu Kronzeugen deutscher Läuterung, herausgestellt wie ein symbolischer Ersatz für die Ausgelöschten. Im Gegenzug genießen die Repräsentanten der Gemeinde öffentlichen Status und Medienresonanz; so ist es bis heute.

Die Umstände ändern sich, ein divers gewordenes Judentum lebt nun in einer vielstimmigen Gesellschaft

Doch haben sich die Umstände geändert, ein divers gewordenes Judentum lebt nun in einer vielstimmigen Gesellschaft. „Juden und Jüdinnen bilden keine Gemeinschaft, weder religiös noch ethnisch“, urteilt der jüdische Lyriker Max Czollek rigoros. Sie seien vielfältiger, als es ihre „öffentliche Brauchbarkeit“ zulasse, und sollten ihre Rolle im Gedächtnistheater aufkündigen.

Die Haltung von Gemeindeoberen, innerjüdischen Dissens nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, wird von Jüngeren nun als „Dominanzkultur“ kritisiert; sie verhindere Demokratie, unterdrücke Vielfalt. So war es kein Zufall, dass die Zeitschrift Jalta gegründet wurde, nachdem der Präsident des Zentralrats eine Obergrenze für Flüchtlinge fordert hatte. Das Projekt markiert ein Ende der Nachkriegsordnung, denn es will die alte Zweiteilung beenden: hier der verborgene innerjüdische Diskurs, dort die strategische Ansprache der Mehrheitsgesellschaft. Stattdessen: Dissens sichtbar machen, und ohne Angst verschieden sein.

Sind wir soweit?

Diese Losung auf den Umgang mit israelischer Politik anzuwenden, ist vermutlich das Schwierigste. Dennoch halte ich es für falsch, wenn der Historiker Moshe Zimmermann „Diasporajuden“ als „Geiseln israelischer Politik“ bezeichnet. Geiseln haben keine Wahl, sie entscheiden sich nicht, Geisel zu sein. Jeder Jude, jede Jüdin ist frei, die Okkupation zu kritisieren; sie zu beschweigen, ist gleichfalls eine dezidierte Haltung, und sie kommt nicht unter Erpressung zustande. Es ist nicht Bedrohung von außen, warum die israelische Führung so nach rechts gerückt ist. Und es liegt nicht an akuter antisemitischer Gefährdung, wenn das offizielle jüdische Meinungsspektrum in Deutschland so schmal ist. Das sind Entscheidungen, und sie sind änderbar.

Charlotte Wiedemann

ist freie Autorin und wurde mit ihren Reisereportagen aus muslimischen Ländern bekannt. Im März 2017 erschien von ihr: „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“ (dtv).

Ein Blick in die USA: Die Mehrheit amerikanischer Juden geht seit Längerem auf Abstand zu israelischen Scharfmachern. Selbst das American Israel Public Affairs Committee, bisher Benjamin Netanjahus Verbündeter durch dick und dünn, reagierte nun irritiert auf dessen Wahlallianz mit einer extremistischen Partei, die für die Deportation der arabischen Israelis eintritt. Die Kritik der liberalen Gruppe J Street, die in der jüngeren Generation der US-Juden viel Anhang gewonnen hat, fiel erwartungsgemäß heftiger aus.

Liegt es allein an der größeren Zahl der amerikanischen Juden, dass unter ihnen eine Pluralität der Ansichten so normal ist wie religiöse Vielfalt? Gewiss nicht. Es braucht auch ein gesellschaftliches Umfeld, das damit umgehen kann. Ein Umfeld, das Juden und Jüdinnen nicht als Figuren für die Vitrine betrachtet, sondern als reale Menschen, mit denen man streiten kann. Sind wir so weit?

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

13 Kommentare

 / 
  • Auszug aus einem Gespräch mit Andreas Zumach:

    "Ist die Debatte polemisch und unehrlich?

    Sie ist es in mehrfacher Weise nicht nur polemisch und unehrlich, sondern auch schädlich. Denn Josef Schuster und Felix Klein verharmlosen mit ihrem inflationären Antisemitismusvorwurf gegen Kritiker der israelischen Regierungspolitik die real existierende Judenfeindlichkeit in Deutschland und erschweren ihre Bekämpfung. Mit der infamen Gleichsetzung eines wirtschaftlichen Boykotts zur Überwindung von Ungerechtigkeit mit dem Aufruf „Kauft nicht bei Juden“ der Nazis verharmlosen Schuster und Stein zudem den Holocaust und verhöhnen seine Opfer. Zu Unrecht reklamiert Schuster, im Namen aller Jüdinnen und Juden in Deutschland zu sprechen. Zugleich verweigert er in äußerst undemokratischer Weise den öffentlichen Diskurs mit Menschen – Juden wie Nichtjuden- , die anderer Meinung sind als er."

    www.hna.de/lokales...mach-11829933.html

  • 'Bloß noch ein Preis von "Israelkritikern" für "Israelkritiker"', das trifft die Sache auf den Punkt.

  • 7G
    75026 (Profil gelöscht)

    1)



    "Sondern es geht um Meinungsfreiheit" - ein von "Israelkritikern" häufig bemühtes Argument. Und wie üblich ist es auch hier falsch. Niemand bestreitet der "Jüdischen Stimme" das Recht, ihre Meinung zu äußern. Sondern es geht darum, ob diese Meinung es wert ist, prämiert zu werden, und das womöglich noch mit Hilfe öffentlicher Ressourcen.

    2)



    Nachdem sich nun Stadt, Uni und Sparkasse zurückgezogen haben, geht es bloß noch um einen Preis von "Israelkritikern" für "Israelkritiker". Sollen sie machen, who cares?

    • @75026 (Profil gelöscht):

      "Stadt, Uni und Sparkasse" stehen ja auch wirklich sehr im Verdacht besonders mutig und fortschrittlich zu sein. ^^^

    • @75026 (Profil gelöscht):

      wobei natürlich der rückzug der sparkasse besonders schmerzlich ist.



      *grinz*

      • 7G
        75026 (Profil gelöscht)
        @christine rölke-sommer:

        Klar, da kam ja die Kohle her.

  • Essenz des Kommentars ist lediglich die Binsenweisheit, dass es niemanden gibt, der verbindlich für alle Juden sprechen kann, und dass das Judentum kein monolithischer Block ist, sondern dass Juden alle möglichen Meinungen vertreten.

    Das trifft für alle anderen Menschengruppen aber genauso zu.



    Und es ändert nichts daran, dass eine antisemitische Position (BDS-Unterstützung) auch dann antisemitisch ist, wenn sie von Juden vertreten wird. Es gibt z. B. auch haufenweise Frauen, die frauenfeindliche Positionen vertreten, und deren Positionen werden allgemein als frauenfeindlich kritisiert, ohne dass sich jemand darüber aufregt.

    Wie der Kommentar von Frau Wiedemann wohl ausgefallen wäre, wenn der Gruppe "Juden in der AfD" ein Preis verliehen worden wäre?

  • "Das Judentum" war immer äusserst divers, teilweise heftig zerstritten und weit davon entfernt eine Einheit zu sein. Das zeigte sich schon in der römischen Provinz Judäa, als mehrere religiös und politisch verschieden agierende Gruppen sich bekämpften. Noch heute gibt es z.B. ultraorthodoxe Gruppierungen, die den Zionismus, sowie den Staat Israel ablehnen und die sich im Notfall auch für ihre Ansichten prügeln.



    "Der Jude" war nicht die jüdische Realität, sondern das von den Christen in Europa erschaffene Feindbild.



    Wenn heute der Zentralrat der Juden meint, er könne für alle Juden sprechen, kann er das gerne tun. Wenn die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost sich einseitig zum Nahostkonflikt äussert, darf sie das ebenso selbstverständlich tun. Und wenn sich die beiden Seiten streiten, ist das auch legitim.



    Die von gewissen Leuten und der Autorin erwähnte jüdische Gemeinschaft ist ein Konstrukt. Wer Teil dieser Gemeinschaft ist oder nicht, kann nicht von aussen entschieden werden; nicht von Herrn Schuster und nicht von Frau Wiedemann. Das darf man gerne den Betroffenen überlassen.



    Diese zuweilen merkwürdigen Texte über Juden zeigen doch nur, dass das Bild "des Juden" immer noch herum geistert: Der Jude ist zuerst Jude und erst dann kommen andere Identitäten zum tragen. Solcherlei Idetitätszuschreibungen würde niemand bei einem Christen machen.

    • 6G
      61321 (Profil gelöscht)
      @ecox lucius:

      Danke für diesen Kommentar.

  • Die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ ist eine Vereinigung von „Frauen und Männern jüdischer Herkunft in Deutschland, um sichtbar zu machen, dass wir aus den historischen Erfahrungen unserer Vorfahren um die Entwürdigung und den Schmerz wissen, die Menschen zugefügt werden, wenn sie systematisch ausgegrenzt und entrechtet werden. Es darf sich kein Volk über ein anderes Volk und kein Mensch über einen anderen Menschen erheben. Alle Menschen sind gleich an Rechten geboren.“ (Selbstdarstellung) Wer dieses Credo vor dem Hintergrund der deutschen Zeitgeschichte und ausgerechnet in deutschem Namen als antisemitisch kritisiert, erweist der Verteidigung des Staates Israel nicht nur einen Bärendienst, sondern maßt sich als Nicht-Jude an, in dem innerjüdischen Streit um eine nachhaltig existenzsichernde Araber-Politik Israels einseitig Partei zu ergreifen. Als Deutscher deutschen Juden Antisemitismus vorzuwerfen, ist schon ziemlich dreist und anmaßend, als ob es da nicht genug vor der eigenen Haustür zu kehren gäbe.

    Am rechten Ende der politischen Skala in diesem innerjüdischen Streit stehen solche Bewegungen wie die (in Israel verbotene) theokratische Kach-Partei und ihr Abkömmling Otzma Yehudit. Diese steht in der programmatischen Tradition der dereinst von Rabbi Meir Kahane („ein jüdischer Nazi“ - SPON) gegründeten Jewish Defense League, einer rassistischen, religiös-fundamentalistischen, ultra-nationalistischen vulgo rechtsextremen Bewegung. Zu deren ideologischen Essentials gehören u. a. die Vorstellung einer gottgewollten Superiorität des auserwählten jüdischen Volkes vor allen anderen, das Verbot sexueller Vermischung von Juden und Nicht-Juden, die Expansion Israels auf das gesamte historische „Heilige Land“ und ethnische Vertreibung alle Nicht-Juden aus diesem Gebiet, die Ablehnung des westlichen Liberalismus und der Demokratie als „unjüdisch“, „gottlos“ und „hellenistisch“ usw. Mit Otzma Yehudit ist nunmehr der Likud ein Wahlbündnis eingegangen.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Bei Fragen zum Nahost Konflikt ist es immer Hilfreich zu schauen, wie differenziert die Lage beurteilt wird.



      Ein Blick in die Selbstdarstellung der jüdischen Stimme zeigt die klassische Rollenverteilung: Palästinenser als reine Opfer, Israelis stets in der Rolle der Täter.



      Wer einen komplexen Konflikt auf eine so simple Formel runter bricht ist in der Tat nicht preiswürdig.



      Auch darf man sich nicht beklagen, wenn diese Position mit "die Juden sind an allem Schuld" zusammengefasst und somit der Vorwurf des Antisemitismus laut wird.

    • 8G
      83191 (Profil gelöscht)
      @Reinhardt Gutsche:

      Bis auf folgenden Abschnitt bin ich ganz bei Ihnen: "Als Deutscher deutschen Juden Antisemitismus vorzuwerfen, ist schon ziemlich dreist und anmaßend [...]."

      Jeder hat das Recht seine Meinung auszusprechen. Egal wer, egal worüber. Man disqualifiziert sich nicht durch seine unverschuldete Abstammung, sondern ggf. durch seine Wortwahl, Argumentation o.ä.

  • Danke für diesen Kommentar. Endlich mal eine Stimme der Vernunft.