Debatte Faschismus und Klassen: Der Extremismus der Mitte
Die Behauptung, die „Abgehängten“ seien für faschistische Propaganda besonders anfällig, war 1932 schon genauso falsch wie heute.
J ahrzehntelang hat es sich die Mitte mit der Extremismustheorie schön bequem gemacht. Die Extremismustheorie von Uwe Backes und Eckard Jesse behauptet die Existenz einer über alle Zweifel erhabenen Mitte, die fest „auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ steht. An den Rändern – jener Zone, die man im Angelsächsischen auch gern als lunatic fringe bezeichnet – tummeln sich dagegen die totalitären Bösewichte der extremen Linken und Rechten.
Diese Theorie war immer schon mehr den Aufrechnungszwecken der selbstzufriedenen rechten Mitte geschuldet als einer präzisen und wissenschaftlich nachvollziehbaren Beobachtung der Wirklichkeit. Jedem Hinweis auf real existierende Nationalsozialisten in Union und FDP konnte so geantwortet werden: Die linken Extremisten sind genauso schlimm!
Die alten Nazis sind längst ausgestorben. Das heißt aber nicht, dass extremistische und rassistische Positionen aus den Parteien der Mitte verschwunden wären. Wenig verwunderlich also, dass die gute alte Extremismustheorie immer wieder gern aus der Schublade geholt wird. Zuletzt machte sich Kristina Schröder von der selbsterklärten Mittepartei CDU um die gute alte Extremismustheorie verdient, als sie denjenigen, die unsere Demokratie energischer als die Volksparteien gegen rechte Extremisten verteidigen, pauschal unterstellte, Anhänger eines linken Extremismus zu sein.
Inzwischen hat sich zwar – sachte, sachte – die Erkenntnis durchgesetzt, dass es einen Extremismus der Mitte gibt. Weniger bekannt ist allerdings, dass der Mitte-Extremismus unter anderem als Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten postuliert wurde. Seymour Martin Lipset hatte seine These, dass der Faschismus im Kern ein Extremismus der Mitte sei, 1959 auf Deutsch in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie dargelegt.
Die Theorie
Der junge Ernst Nolte, der damals ein erklärter Gegner der Totalitarismustheorie war und auch noch nicht behauptete, der Nationalsozialismus sei die Antwort auf den Bolschewismus gewesen, nahm Lipsets Aufsatz in einen von ihm 1967 herausgegebenen Band auf. In „Theorien über den Faschismus“ versammelte Nolte, getreu der Erkenntnis, dass die Theorien über den Faschismus so alt wie der Faschismus selbst sind, Texte von Faschisten, Nationalsozialisten, Marxisten, Sozialisten und Liberalen, Politikern, Journalisten und Historikern aus den Jahren 1921 bis 1959. Ein Wälzer, in dem unter anderem Mussolini, Goebbels und Clara Zetkin zu Wort kommen. Und den es heute noch zu lesen lohnt.
An Lipsets Ausführungen hatte Nolte zwar einiges auszusetzen, lobte aber dessen Auswertungen der Wahlresultate „vor dem Sieg des Nationalsozialismus“. Und er schrieb Lipset das Verdienst zu, „dass er die Aufmerksamkeit auch auf die faschistischen oder quasifaschistischen Erscheinungen der Nachkriegszeit lenkt“. Denn der Faschismus sei zwar als „staatenbeherrschende Erscheinung 1945 zugrunde gegangen. Aber die Mentalität, die ihn kenntlich machte, hat in mancherlei Abschattung überlebt“, schrieb Nolte.
Die gesellschaftlichen Dispositionen, die ihn ermöglichen, bestünden fort, warnte er. Es gebe eine „Tendenz zu extremer Reaktion auf die Unsicherheit einer in der Verwandlung zu stetig komplizierteren und unbegrenzteren Formen des Zusammenlebens begriffenen Welt vonseiten derjenigen, die sich bedroht fühlen“, betonte Nolte. Eine Diagnose, die mit Blick auf Alexander Gauland, Björn Höcke und Beatrix von Storch wieder aktuell wirkt.
Wer war Seymour Martin Lipset, der die These vom Extremismus der Mitte propagierte? Er wurde 1922 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Russland in New York geboren. Er begann seine akademische Karriere als Trotzkist. Später galt er als einer der ersten Neokonservativen. Die Idee des Extremismus der Mitte hatte er bei Harold Lasswell gefunden. Der hatte schon 1933 geschrieben, dass der Extremismus der Mittelklasse seinen Ursprung in Trends habe, „welche der kapitalistischen Gesellschaft eigen sind und von welchen die Mittelklasse auch dann betroffen würde, wenn sich ihre Stellung gebessert hätte“.
Damals
Der Extremismus der Mitte formierte sich laut Lipset bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert. In dem Maß, in dem die Bedeutung der Mittelklasse abnahm und ihre Ressentiments gegen bestehende gesellschaftliche Trends bestehen blieben, „wurde aus der ‚liberalen‘ Ideologie einer revolutionären Klasse – welche für die individuellen Rechte und gegen die in den Händen weniger Leute geballte Macht kämpfte – die Ideologie einer reaktionären Klasse“, schrieb Lipset.
Nur wenige Parteien konnten sich vor 1933 gegen die NSDAP behaupten. Die Mehrheit der nationalsozialistischen Wähler hatte vorher liberale bürgerliche Parteien der Mitte gewählt. Die Nazis waren dabei umso weniger erfolgreich, je größer die Stadt war, in der sie zur Wahl antraten. In Berlin erhielten sie 1932 nur 25 Prozent der Stimmen.
In den Städten korrelierten die im Juli 1932 abgegebenen Stimmen mit den Angehörigen der Mittelklasse. Interessanterweise waren die Angehörigen der unteren Mittelklasse, Beamte und Angestellte, damals weniger anfällig für die NS-Ideologie als die der oberen Mittelklasse, also Eigentümer von kleineren und größeren Betrieben und leitende Angestellte.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
„Im Jahre 1932 war der idealtypische Wähler der nationalsozialistischen Partei ein selbständiger protestantischer Angehöriger der Mittelklasse, der entweder auf einem Hof oder in einer kleinen Ortschaft lebte und der früher für eine Partei der politischen Mitte oder eine regionale Partei gestimmt hatte, die sich der Macht und dem Einfluss von Großindustrie und Gewerkschaften widersetzte“, schrieb Lipset.
Heute
Die Behauptung, vor allem die „Abgehängten“ seien für faschistische und rassistische Propaganda besonders anfällig, war demnach 1932 schon genauso falsch wie dann 2016 in den USA. Auch wenn diese „Abgehängten“ keinen unerheblichen Teil der Wähler extremistischer Parteien der Linken, der Rechten und der Mitte ausmachen. Diese hätten vieles gemeinsam, schrieb Lipset: „Sie sprechen die Unzufriedenen und die psychologisch Entwurzelten an, die persönlich Erfolglosen und die gesellschaftlich Isolierten, die wirtschaftlich Unsicheren, die Ungebildeten, die Unintelligenten und die Autoritären einer jeden einzelnen gesellschaftlichen Schicht.“
Der Extremismus der Mitte hat nun in Deutschland wieder eine Partei. Ihre Kernklientel besteht aus Angestellten und kleinen Selbstständigen, sagt die Forschung. Am Dienstag wird die AfD in den Bundestag einziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn