Debatte Brexit: Desaster auf der Insel
Großbritannien war bisher die größte Steueroase Europas. Damit ist bald Schluss, denn die Trümpfe hält die EU in der Hand.
D er Brexit war eine schlechte Idee – für die Briten. Die Engländer neigen zwar dazu, sich für eine Weltmacht zu halten, aber faktisch sind sie eine kleine Insel fast ohne Industrie. Wovon wollen sie leben, wenn sie aus der EU ausscheiden?
Diese Frage wurde von den Briten lange ignoriert. Doch langsam macht sich Panik breit, zumindest bei den Eliten. Premierministerin Theresa May versucht daher, die heimischen Unternehmen und Banken zu beruhigen, indem sie verspricht, dass Großbritannien zu einer Steueroase wird und die Belastungen für Firmen senkt. May sagt es nicht so deutlich, aber die Botschaft ist klar: Wir klauen den Europäern ihr Geld; dann bleiben wir reich.
Diese Drohung ist entsetzlich – weil sie so naiv ist. Die Briten können nicht zu einer Steueroase mutieren, denn sie sind längst eine. Die City of London verwaltet die Kanalinseln, die Isle of Man sowie britische Überseegebiete wie die Bermudas, Cayman- und Jungferninseln, die allesamt davon leben, dass sie Unternehmenssteuersätze von null Prozent haben oder anonyme Briefkastenfirmen anbieten. Großbritannien ist schon jetzt die größte Steueroase Europas, dieser unschöne Superlativ lässt sich nicht steigern.
Das Problem stellt sich genau anders herum dar, als es von May präsentiert wird: Falls die Briten die EU verlassen, würde ihre Steueroase nicht größer – sondern dürfte kollabieren. Schon jetzt haben diverse EU-Staaten die britischen Kanalinseln und Überseegebiete als „nicht kooperative Jurisdiktionen“ gelistet – aber bisher konnte Großbritannien stets verhindern, dass Sanktionen folgten. Nach dem Brexit wäre es damit vorbei.
Dank der EU wurde London zum gigantischen Finanzplatz
Das Modell Steueroase ist natürlich nicht der einzige Geschäftszweig, den die City of London betreibt. Aber das wäre für die Briten kein Trost, denn auch alle anderen Finanzaktivitäten des Landes hängen von seiner EU-Mitgliedschaft ab. Denn bisher gelten die sogenannten „Finanzpassrechte“.
Dieses Passport-System ist extrem weitreichend und großzügig. Ist eine Bank in einem EU-Land zugelassen, darf sie ihre Finanzdienstleistungen auch in allen anderen Mitgliedsstaaten betreiben – ohne weitere Kontrollen oder Zusatzlizenzen. Diese Regelung gilt sogar für Nicht-EU-Banken. Ein Beispiel: Da die amerikanische Großbank JP Morgan Filialen in London hat, kann sie ihr Investmentbanking auch im restlichen Europa anbieten.
Nur durch das Passport-System konnte London zu einem gigantischen Finanzplatz werden, der fast alle europäischen Spekulationsgeschäfte abwickelt. Auch Euro-Titel werden nicht etwa in der Eurozone gehandelt – sondern in England. Über London laufen 45 Prozent der Geschäfte mit Devisenderivaten und 70 Prozent des Handels mit Zinsderivaten, die auf Euro lauten. „Dies entspricht einem täglichen Umsatz von einer Billion Euro“, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kürzlich in einer Brexit-Studie berechnet.
Derivate lassen sich auch in Luxemburg handeln
Auf die Spekulationsgeschäfte kann die britische Wirtschaft kaum verzichten: Nur diesem „Export“ von Finanzdienstleistungen ist es zu verdanken, dass Großbritannien seine Importe finanzieren kann. Ohne die Derivat- und andere Finanzgeschäfte würde in der Leistungsbilanz ein Loch von 6,9 Prozent klaffen. Die Briten leben also weit über ihre Verhältnisse, was sie dadurch finanzieren, dass sie Finanzkapital aus dem Ausland ansaugen.
Die britische Elite weiß, dass die City of London ohne das Passport-System weitgehend schließen müsste. Also wird Zweckoptimismus verbreitet. Brexiteer Boris Johnson, neuerdings Außenminister, verkündete auf seiner Antrittsreise in die USA, dass die Finanzpassrechte „sicher“ seien. Das ist reines Wunschdenken. Um es brutal auszudrücken: Beim Thema Finanzdienstleistungen sind die Briten komplett erpressbar.
Denn eigentlich benötigt niemand ihre „Dienstleistung“, Derivate zu verhökern. Ganz abgesehen davon, dass diese Spekulationsgeschäfte größtenteils überflüssig sind: Derivate lassen sich auch in Frankfurt oder Luxemburg handeln. Daher ist es keine leere Drohung, sondern schlichter Realitätssinn, dass Londoner Banken bereits planen, ihre Finanzgeschäfte auf den europäischen Kontinent zu verlegen. Etwa 700.000 Arbeitsplätze wären in der City direkt oder indirekt in Gefahr.
Den Kuchen neu aufteilen
Sollte May den Brexit tatsächlich offiziell beantragen, würden die Verhandlungen völlig anders verlaufen, als viele Briten glauben, die sich eine Art Boxkampf vorstellen. Die EU-Staaten würden aber nicht so sehr mit Großbritannien ringen – sondern vor allem untereinander austarieren, wie man den Finanzkuchen neu aufteilt.
Der Brexit wird gern als Desaster diskutiert – als müsste Europa schwer leiden, wenn Großbritannien ausscheidet. Tatsächlich aber ergäbe sich für Rest-Europa nach dem freiwilligen Ausscheiden des Inselstaates die Chance, seine internen Finanzbeziehungen neu zu ordnen.
Nur ein Beispiel: Es ist ein leidiges Problem, dass auch Luxemburg eine Steueroase ist – und diese nicht schließen kann und will, weil die Banken 40 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung beitragen. Könnte man den Luxemburgern aber anbieten, dass sie einen Teil der Londoner Finanzaktivitäten übernehmen dürfen, wäre es für sie kein existenzieller Verlust mehr, ihre bisherigen Steuersparmodelle für Großkonzerne zu kippen.
Der Parasit wird teilweise am leben bleiben
Das Machtgefälle ist objektiv betrachtet eindeutig. Die EU könnte die Briten so knebeln, dass ihr Land ökonomisch zerstört wird. Aber genau diese Asymmetrie beschert den Briten den einzigen Trumpf in ihrem schwachen Blatt: Die Europäer können nicht riskieren, dass es zu einer schweren Wirtschaftskrise auf der Insel kommt, weil diese Rezession auch auf den Kontinent überschwappen würde.
Die EU muss also wohl oder übel großzügig sein und den Briten einen Teil ihres Geschäftsmodells lassen – obwohl es parasitär ist und davon lebt, die Finanzströme aus Europa nach London umzulenken. Allerdings wird diese Option immer unwahrscheinlicher, weil viele Briten ihre eigene ökonomische Schwäche nicht verstehen und vom „harten“ Brexit schwadronieren. Hart wird er. Für die Briten.
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