Debatte AfD-Wahlergebnis auf Rügen: Was ist denn da oben los?
Rügen ist Merkels Wahlkreis und die Heimat unserer Autorin. Warum wählte dort jeder Vierte AfD? Der Erklärungsversuch einer Einheimischen.
J etzt ist passiert, was ohnehin schon alle erwartet hatten: Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern holte die AfD aus dem Stand 20,8 Prozent. Auf meiner Heimatinsel Rügen, Merkels Wahlkreis 34, der sich auch über Vorpommern erstreckt, waren es sogar satte 24,9 Prozent.
Hat mich das hohe AfD-Votum meines früheren Wahlkreises überrascht? Ja, weil ich keine bornierten, fremdenfeindlichen RüganerInnen und VorpommeranerInnen in meinem Bekanntenkreis habe und ihnen bei meinen Reisen an die Küste eher selten begegne. Ja auch deshalb, weil mich erstaunt, wie viele Protest-WählerInnen den Imageschaden für die Touristenregion in Kauf nehmen, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.
Überrascht hat mich das Wahlergebnis insofern nicht, da ich sehe, dass es in meiner ehemaligen Heimat Umstände gibt, die viele Menschen frustrieren. Dass diese in komplizierten Zeiten Rechtspopulisten in die Arme laufen, ist keine neue Erkenntnis. Dabei möchte ich die 23,8 Prozent meiner Landsleute, die am vergangenen Sonntag AfD und NPD gewählt haben, keineswegs in Schutz nehmen. Ihr Votum ist beschämend.
Trotzdem: Das Klischee vom „braunen unzivilisierten Nord-Osten“ wird jetzt zu schnell bedient. Auf Facebook kursierten Posts wie „Das Land sollte nicht seine Flüchtlings-, sondern Bildungspolitik überdenken“. Und die taz fragte, ob die Insel weiterhin ein geeigneter Urlaubsort sei.
Keine Überraschung
Doch so einfach ist es nicht. In Mecklenburg-Vorpommern ist die Arbeitslosigkeit mit 9 Prozent nach wie vor wesentlich höher als im Bundesdurchschnitt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt weit unter dem aller anderen Bundesländern. In der Generation meiner Eltern gibt es viele Bürger, die nach 1990 die typische Nachwende-Laufbahn von der Umschulungs- zur Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Arbeitslosigkeit und zurück absolvierten. Ingenieure, Bauern, Fabrikarbeiter und Seeleute verloren ihre Arbeit und bekamen nie wieder einen Fuß in die Tür, weil ganze Industriezweige einbrachen und sich nicht wieder erholten. Hinzu kommt die Abwanderung von jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften und die deutschlandweit höchste Jugendarbeitslosenquote (12, 1 Prozent).
Die Wende wirkt noch immer: Auf meiner Heimatinsel Rügen herrschte in den frühen Neunzigern Goldgräberstimmung. Ganze Straßenzüge in den Ostseebädern verloren ihre BewohnerInnen und die ihre Häuser. Sie gehören jetzt den Alteigentümern oder deren Freunden, wurden umgebaut zu Hotels und Ferienapartments und stehen, außer in den Sommermonaten, leer. Der soziale Zusammenhalt ganzer Ostseebäder wurde damals auseinandergerissen und nur vereinzelt wieder gekittet.
Das ist lange her. Doch damals verankerte sich bei den Menschen das Gefühl, nicht gesehen, nicht gehört zu werden. Kollektiver Frust kam auf, das Vertrauen in den Staat war dahin. Solche Gefühlslagen sind langlebig. Die AfD hat sie sich mit platten Parolen, wie dass für Flüchtlinge „mehr getan“ werde als für Einheimische“ zunutze gemacht. Fast ein Witz angesichts der Tatsache, dass in dem 1,6-Millionen-Einwohner-Land, in das nach 1945 eine Million deutsche Flüchtlinge kamen, derzeit etwa nur 24.000 Flüchtlinge leben.
Das heißt aber auch, dass die Menschen dort noch 26 Jahre nach dem Mauerfall kaum Erfahrungen mit MigrantInnen gesammelt haben. In den achtziger Jahren etwa gab es in der 15.000-Einwohner-Stadt Sassnitz auf Rügen einen einzigen Migranten aus Ghana, der als Gastarbeiter in die DDR kam und von den Einheimischen N****-Paule genannt wurde. Heute leben hier nur unwesentlich mehr Menschen nichtdeutscher Herkunft, zuletzt kamen etwa 100 syrische Flüchtlinge. Interkulturelle Kompetenz ist unter den Bürgern Mecklenburg-Vorpommerns bisher kaum eingeübt, die fremdeste Erfahrung im Alltag vielerorts der Dönerimbiss.
Jahrgang 1980, ist seit 2014 Chefin vom Dienst im Berlin-Ressort der taz. Sie ist gebürtige und noch immer bekennende Rüganerin und war erst am vergangenen Samstag in der Ostsee baden.
Nicht so gut steht es auch um die lokale Identität der BürgerInnen von Mecklenburg-Vorpommern. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte. 1952 wurde das Land bei einer Verwaltungsreform aufgelöst und in die drei Bezirke Neubrandenburg, Rostock und Schwerin gegliedert. Nach der Wiedervereinigung erfolgte die Neugründung Mecklenburg-Vorpommerns.
2011 wurde als Reaktion auf den Bevölkerungsschwund im Rahmen einer Polizei-, Kreisgebiets- und Amtsgerichtsreform die Zahl der Landkreise und kreisfreien Städte reduziert. Ämter, Bankfilialen, Schulen und Gerichte wurden geschlossen und zusammengelegt. Hinzu kommt, dass Regionalismen, wie volkstümliche Bräuche, Dialekte oder regionale Küche im Sozialismus nicht gepflegt wurden. In den Gaststätten auf der Insel Rügen wurde Fleisch statt Fisch gegessen. Erst seit ein paar Jahren wird an den Schulen wieder Plattdeutsch unterrichtet.
All die EU-Milliarden
Natürlich ist das nur ein Teil der Wahrheit. Ein anderer ist: Seit der Wende flossen Abermilliarden Euro Fördermittel der Europäischen Union ins Bundesland, der Tourismus boomt, und das Bruttoinlandsprodukt stieg 2015 um 1,9 Prozent.
Viel wurde geschafft im Nordosten. Jetzt sind die demokratischen Parteien mehr denn je gefordert, diffusen Bürgerängsten mit Information und Partizipation entgegenwirken. Die BürgerInnen stattdessen mit einer „Wir schaffen das“-Rhetorik zu überfordern, die zudem vor parteipolitischer Planlosigkeit und Kontroverse strotzt, ist der falsche Ansatz, wie das Wahlergebnis zeigt. Gefordert ist auch die Zivilgesellschaft Mecklenburg-Vorpommerns, politische Stimmungen und Ängste im Land offensiv in die Öffentlichkeit zu tragen. Bis auch der letzte AfD-Wähler begreift, dass es nicht reicht, seinen Unmut durch ein passiv-aggressives Protestkreuz auf dem Wahlzettel zu artikulieren.
Was nicht hilft, ist die bildungsbürgerliche Engstirnigkeit vieler Biodeutscher, die jetzt hämisch mit dem Finger auf den Nordosten zeigen – als seien wir nicht längst ein Land. Diese hochmütige Haltung verbreitert die Kluft und ermuntert so Stigmatisierte nur, gegen die vermeintlichen Eliten anzuwählen. Ich aber möchte meine Region nicht aufgeben.
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