Das Phänomen Taylor Swift: Auf Heldinnenreise
Taylor Swift ist die unbestrittene neue Queen of Pop, „Swifties“ bilden ein riesiges Fan-Universum. Unsere Autorin ist eine von ihnen.
B ald ist es ein Jahr her, dass mir im Halbschlaf Taylor Swift erschien. Ich lag spätabends auf dem Sofa, scrollte schon so gut wie weggedämmert durch die Timelines all meiner Social-Media-Apps, als sie plötzlich vor mir stand: in Powerpose und schlangenbesticktem Ganzkörper-Ledersuit fuhr sie auf einer nebelumhüllten Hydraulikbühne gen Himmel. Um sie herum Dutzende senkrecht in die Wolken über einem Football-Stadium gerichtete Mega-Scheinwerfer und flackernde Kerzen auf Riesen-LED-Wänden.
Es war ihr Song „Don’t Blame Me“, der sich da gerade zum Höhepunkt aufbäumte, Swift breitete die Arme aus, schaute verschmitzt nach links und rechts, woraufhin 80.000 Menschen ihr die Worte „Take us to church“ zuschrien. Gleichzeitig setzten ihre Backgroundsängerinnen zu gospelartigem Call-and-Response-Gesang an: Oh Lord save me, my drug is my baby / I'll be using for the rest of my life. Swift schmetterte ihnen entgegen: Using for the rest of my life / ohoohohohooo.
Dann: Ekstase, wie ich sie auf den 6,3 Zoll meines Handyscreens selten gesehen habe. „Und wenn schon“, dachte ich zunächst und scrollte weiter.
Doch dann scrollte ich zurück.
Und noch einmal.
Und noch einmal.
Der Clip wurde meine ganz persönliche Droge. Natürlich bemerkte auch der Algorithmus meine Sucht und versorgte mich nonstop mit neuem Stoff. Jetzt, viele Monate später, bin ich immer noch high. Aus mir ist ein Swiftie geworden. Ihre Musik ist der Soundtrack zu jeglicher meiner Aktivitäten, ich analysiere Lyrics, durchleuchte Musikvideos und lese zwischen den Zeilen ihrer Instagram-Posts, immer auf der Suche nach verschlüsselten Botschaften, sogenannten Easter Eggs. Denn meine neue Lieblingssängerin sendet laufend codierte Nachrichten in ihren Songs und Statements.
Ich mache also nur meine Swiftie-Hausaufgaben. Vielleicht ein bisschen zu eifrig, aus schlechtem Gewissen, dass ich 17 Jahre gebraucht habe, um zu erkennen, dass dieser Popstar anders als die anderen ist. Sie musste sich mir erst ins Handy schleichen und dort immer wieder auflauern. Die Mitschnitte stammen von ihrer Eras Tour: Swift performt seit vergangenem März in ausverkauften Football-Stadien einen Querschnitt ihres gesamten Oeuvres. 44 Songs, dreieinviertel Stunden.
Heute kann ich Zehn-Minuten-Versionen ihrer Songs fehlerfrei mitsingen, kenne die Namen ihrer drei Katzen und kann die Theorie um die Zahl 112 im Schlaf herunterbeten – dazu später mehr. Wie ist das passiert? Warum zieht mich diese Frau so in ihren Bann? Und bin ich mit Anfang 30 fürs Superfanwerden nicht ein bisschen zu alt?
Taylor Swift ist aktuell die Pop-Weltmarke Nummer eins, das muss man eigentlich niemandem mehr erzählen. Mit über 200 Millionen verkauften Alben, zwölf davon Nummer 1 der US-amerikanischen Charts, und den allermeisten Streams auf Spotify ist sie die derzeit erfolgreichste Sängerin der Welt. Sie ist Gewinnerin von einem Dutzend Grammys und 40 American Music Awards und war 2023 als erster weiblicher Popstar „Time Person of the Year“. Begründung: „Sie hat eine Welt geschaffen, in der so viele Platz finden (…) und bringt einer Gesellschaft Freude, die dies gerade dringend braucht.“
Taylor Alison Swift wurde 1989 in Pennsylvania geboren, sie ist Tochter einer Marketingangestellten und eines Vermögensberaters. Der Legende nach entwickelte sie früh eine Liebe für Countrymusik, lernte Gitarre, schrieb eigene Songs und überzeugte als 14-Jährige ihre Eltern, in die Nähe der Country-Hochburg Nashville zu ziehen, um ihre Musikkarriere voranzubringen. Nach Auftritten in Talentshows und Cafés bekam Swift einen Plattenvertrag, 2006 erschien ihr erstes Album. Damit sprach sie ein Publikum an, das vom Country-Genre zuvor eher vernachlässigt worden war: Teenagerinnen wie sie selbst. Mit ihrem fünften Album „1989“ wechselte Swift im Jahr 2014 ins Pop-Genre, ihr Sound wurde in der Folge mal elektronischer („Reputation“, 2017), mal akustischer („Folklore“ und „Evermore“, beide 2020) und zuletzt mit „Midnights“ (2022) wieder poppig.
Als 34-Jährige blickt sie nun also zurück auf die Epochen ihrer Karriere – mit der Eras Tour als vorläufiger Lebenswerk-Tournee. Dort haben die Fans in manchen Städten messbare seismische Aktivitäten ausgelöst, die Shows gelten als die umsatzstärksten aller Zeiten. Allein mit ihrer Tournee und Merchandise soll sie 2023 insgesamt 1,03 Milliarden Dollar gemacht haben, fast doppelt so viel wie Beyoncé mit ihrer „Renaissance“-Tour.
Genau 60 Jahre nach der Beatlemania hat Taylor Swift es also geschafft, einen vergleichbaren Hype auszulösen. Und das in einer Zeit, in der es mehr als drei Fernsehprogramme gibt und die Auswahl an Künstler:innen, deren Fangemeinden man sich potenziell verschreiben könnte, nahezu endlos ist.
Ich bin mit meiner Obsession also alles andere als alleine. Nun ja – global gesehen. In meinem Freundeskreis musste ich viel Überzeugungsarbeit leisten, um Leute zu finden, die mit mir auf die Eras Tour gehen. Doch jetzt besitze ich ein Ticket, Kostenpunkt: 120 Euro. Den Freundinnen, die sich erbarmt haben, schicke ich seitdem immer dienstags (dem „Taylor Tuesday“, meine Idee, klar) einen Funfact über Swift, damit wir pünktlich zum Konzert im Juli auf dem gleichen Vorfreude-Level sind. Ich sag mal so: Die Euphorie ist bisher ganz meinerseits.
Denn wer in meinem Alter ist, (also ungefähr so alt wie Taylor Swift selbst) ist entweder Fan der ersten Stunde – oder assoziiert sie immer noch zuallererst damit, dass sie ihren Ex-Boyfriends in den frühen Zehnerjahren countrypoppige, nicht besonders schwer zu dechiffrierende Break-up-Songs wie „We Are Never Ever Getting Back Together“ (2012) hinterherwarf. Wen das nicht ansprach, der hat sich ihr in den seltensten Fällen wieder zugewandt. Dabei bin ich mir doch so sicher: Hätten wir ihr schon immer zugehört, wären wir jetzt glücklichere Erwachsene. Denn Taylor Swift ist für viele das weibliche Coming-of-Age-Role-Model schlechthin – mit einem Song für jede Lebensphase.
Damit meine ich aber nicht, dass ich in glitzernden Hotpants vor meinem Schminkspiegel herumspringe und I don't know about you, I'm feeling 22 / Everything will be alright, if we just keep dancing like we're 22 in meine Haarbürste hineinsinge.
Eher liege ich auf dem Bett, abgedunkelter Raum, glasiger Blick zur Decke. Ich bin wieder 22, aber nicht auf die lustige Art. Sondern auf die Art, in der man zum ersten Mal einen Mann liebt, der älter ist als man selbst und ein Machtgefälle missbraucht. „You kept me like a secret, but I kept you like an oath“, singt Swift passend dazu in „All Too Well“.
Oder ich bin 17 und völlig ahnungslos, wer ich eigentlich sein will. I tried to take the road less traveled by / But nothing seems to work the first few times („The Outside“).
Ich bin 25 und ein Elternteil stirbt viel zu früh. You're on your own kid, you always have been („You’re on Your Own, Kid“).
Ich bin 28 und frage mich, ob ich schneller am Ziel wäre, wenn ich jemand anderes wäre. They wouldn't shake their heads and question how much of this I deserve („The Man“).
Und ich bin 31 und fühle mich so sehr hintergangen, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. And I can go anywhere I want, anywhere I want just not home“ („My Tears Ricochet“).
Taylor Swift singt über all diese Mädchen und Frauen, ich war all diese Mädchen und Frauen – und wenn ich sie nicht war, dann stehen sie mir zumindest nah.
Dies ist die eine Seite ihrer Diskographie. Sie feiert die Antiheldin, die Außenseiterin, die Verletzte, die Betrogene. Die andere Hälfte ihrer 220 Songs handelt mindestens genauso nachdrücklich von der Glücklichen. Der Verehrten, der Mutigen, der Mächtigen, der Schönen, der Klugen. Und ich, die Hörerin auf dem Bett, richte mich auf, streiche mir die Klamotten glatt und denke daran, wie fantastisch sich die erste gemeinsame Wohnung anfühlte. Ich denke an meine Freundinnen und was wir gemeinsam durchgemacht haben. Ich denke an meine Oma, die die besten Ratschläge hatte. Und ich denke, dass sich all die Arbeit am Ende immer gelohnt hat. Zu jeder Episode gibt es einen Song. Es ist fast so, als würde Taylor Swift mir aus meinen alten Tagebüchern vorsingen.
Die große Schwester, die Kraft gibt
Vor ein paar Monaten schrieb eine Psychotherapeutin in der New York Times, dass Taylor Swift im Leben immer mehr ihrer jungen Patientinnen die Rolle einer großen Schwester einnehmen würde, an der sie sich außerhalb der Therapiesitzungen festhalten könnten. Nicht nur würde Swift in ihren Songs auf hunderte verschiedene Arten artikulieren, was die Mädchen durchmachten – sie würde ihnen außerdem ihre eigene Kraft als Leihgabe anbieten: Nimm sie dir, umarme den Schmerz, mach etwas Schönes draus. Swift, „Poet Laureate“ ihrer Generation, würde ihre Fans nicht zwingen, sich zu entscheiden, zwischen Antiheldin und Glückskind. Denn ein junger Mensch zu sein, eine junge Frau zu sein, ist komplizierter als das.
Um herauszufinden, wie gerechtfertigt die mit Poet Laureate angedeuteten Dichtungskunst-Lorbeeren wirklich sind, spreche ich mit Elly McCausland. Die Britin ist Literaturprofessorin an der Uni Gent und unterrichtet seit vergangenem Semester den Kurs „Literature (Taylor’s Version)“. Mit ihren Studierenden vergleicht sie Motive aus Swifts Texten mit klassischen Werken von Chaucer und Brontë über Shakespeare bis Atwood. Nie habe es einen solchen Run auf einen ihrer Kurse gegeben, erzählt sie. McCausland sitzt bei unserem Video-Gespräch vor einem girlandenbehangenen Bücherregal, sie trägt baumelnde Ohrringe und einen grobgestrickten Pullover.
Sie ist mit Taylor Swift großgeworden, hört die Musik seit 2006, als Swifts Debütalbum erschien. „Ich glaube, ich habe früh erkannt, dass sie in der Lage ist, nicht einfach nur ein Lied über eine Trennung zu schreiben, sondern über sehr spezifische Aspekte dieser Trennung oder des Sich Verliebens oder der eigenen Kindheit.“ Die literarische Qualität ihrer Texte sei Elly McCausland erst später klar geworden, „wahrscheinlich mit Erscheinen von ‚Folklore‘ und ‚Evermore‘.“
Die beiden Alben entstanden in der Coronazeit und gelten als musikalische Meisterwerke des Lockdowns. Den Stift in die Hand zu nehmen, sei ihre Art des Eskapismus gewesen, schrieb Swift einmal. Ein Flüchten in Fantasie, Geschichte und Erinnerungen. Die Besungenen sind fiktive Charaktere, heißen Betty, James oder Augustine und haben Handlungsbögen, die sich über mehrere Songs erstrecken. Der Sound ist intim, die Bildsprache märchenhaft, die Gitarren sind akustisch. Taylor Swift ist in Flanell gehüllt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Auch ihre Stimme scheint in Songs wie „The 1“, „Cardigan“ oder „Exile“ irgendwie aus diesem Stoff zu sein – dunkel, leicht, warm, weich. Hört man ihre Alben chronologisch durch, singt da anfangs noch ein Mädchen, zwar immer selbstbewusst aber stellenweise wackelig und mit einem Südstaaten-Akzent, der offensichtlich nicht ihrer ist. „Folklore“ und „Evermore“ scheinen der Endpunkt einer Entwicklung zu sein: Swifts Stimme schwebt nur so über der Musik, klang nie zurückgelehnter, unerschütterlicher.
Für den dokumentarischen Konzertfilm „Folklore: The Long Pond Studio Sessions“ hat sie einige Lieder zusammen mit ihren Koproduzenten Aaron Dessner (von der Indieband The National) und Jack Antonoff (Leadsänger der Popband Bleachers und Swifts kreativer Partner seit ihrem Album „1989“) in einem von Wald umgegebenen Studio irgendwo in Upstate New York noch einmal eingespielt.
Zwischen den Songs sitzen sie an einer Feuerschale zusammen, trinken Wein und sprechen über den Schaffensprozess. Statt das, was sie erlebt und gefühlt habe unmittelbar in einen Songtext zu gießen, schreibe Swift nun stärker aus der Vogelperspektive, findet Antonoff. Durch das Album ziehe sich eine Abgeklärtheit, ein zurückgelehntes Kommentieren bereits abgeschlossener und verarbeiteter Erfahrungen. „That’s very powerful to me.“ Swift entgegnet, begriffen zu haben, dass nicht alles, was von ihr komme, autobiografisch sein müsse: „Da ist sehr viel mehr als meine eigene singuläre Storyline.“
Auch Elly McCauslands aktuelle Lieblingszeile stammt aus dieser Ära der fiktiven Erzählungen. Gegen Ende ihrer Pianoballade „Tolerate it“ singt Swift: But what would you do if I / Break free and leave us in ruins / Took this dagger in me and removed it / Gain the weight of you then lose it / Believe me, I could do it. Für McCausland eine besondere Art, auszudrücken, wie es sich anfühlt, die emotionale Last einer schlechten Beziehung loszuwerden. „Tolerate it“ ist angelehnt an Daphne du Mauriers Schauerroman „Rebecca“ aus dem Jahr 1938, in der eine junge Frau einen reichen Witwer heiratet und kurz darauf bemerkt, dass in seinem Haus der Geist der toten Ex-Frau spukt. Auf der Eras Tour deckt Swift zu dem Lied eine lange Tafel, während ein männlicher Tänzer teilnahmslos am Kopfende sitzt. Dann klettert sie auf den Tisch, bewegt sich auf allen Vieren in seine Richtung und fegt alles wieder runter. Auch das Leitmotiv der wütenden Frau, die für ihre Wut pathologisiert wird, ist Thema in Elly McCauslands Seminaren.
Den Entschluss, sich für einen Swift-Unikurs einzusetzen, fasste McCausland, als sie Ende 2022 das damals gerade erschienene „Midnights“-Album hörte. In „The Great War“ singt Swift über eine toxische Beziehung, die trotz gegenseitigem Misstrauen und Paranoia immer weiter besteht. In ihrer Bildsprache wird Liebe zu Kampf, Kummer zu Tod, emotionale Wunden zu körperliche Verletzungen. So weit, so gewöhnlich, dachte sich McCausland, bis es an einer Stelle des Songs heißt: We can plant a memory garden / Say a solemn prayer, place a poppy in my hair. Die Beziehung als „Great War“, deren Trümmer als Soldatengräber. McCausland erfasste ein Unwohlsein, wie es auch schon die US-Schriftstellerin Sylvia Plath mit ihrem Gedicht „Daddy“ (1965) in ihr ausgelöst hatte – die, um den Schmerz zu vermitteln, ähnlich drastische, bewusst unangemessene Kriegsmetaphorik genutzt hatte.
Der Kurs ist lange nicht der erste, der sich auf akademische Weise mit Taylor Swifts Texten befasst, doch er hat McCausland Online-Hetze und Skepsis in der akademischen Welt beschert. Dabei gehe es dezidiert um eine „Aversion gegen Girl’s Culture“. In der Art und Weise, wie Swifts Kunst in der Öffentlichkeit lange verhandelt worden sei, sieht sie „definitiv misogyne Anteile“.
So sei Swift etwa vorgeworfen worden, sich in ihrer Musik immer nur mit Liebe und Herzschmerz zu befassen: „Die Beatles haben ja aber nichts anderes gemacht“, findet McCausland. „Komischerweise hatten die wenigsten dazu eine herablassende Haltung. Handelt es sich um eine junge Frau, eine sich mädchenhaft gebende Amerikanerin noch dazu, ist Herablassung offenbar in Ordnung.“ Und: Nur weil sie es den Hörer:innen mit zugänglichen Texten leichtmache, mangele es nicht an literarischem Wert. Elly McCausland meint: „Ginge es in meinem Kurs um Leonard Cohen oder Bob Dylan, würde das niemanden interessieren.“
Apropos Dylan. Der bekam bekanntermaßen 2016 den Literaturnobelpreis dafür, dass er innerhalb der amerikanischen Song-Tradition „neue poetische Ausdrucksweise erschaffen“ habe. Könnte das gleiche nicht über Taylor Swift gesagt werden? Die Professorin zögert. Swift müsse erst mal den „Test of time“ bestehen. In ihrer Fangemeinde durchaus besonders sei der sogenannte „Fanilect“. Die Bezeichnung ist eine Abwandlung des „Familects“, der speziellen Sprache, die innerhalb von Familien entstehe und auf Insiderwitzen oder einstigen Versprechern basiere. „Wenn ich mich also mit meiner Swiftie-Freundin über Alltägliches unterhalte und dabei eine Songzeile wie If a man talks shit then I owe him nothing einfließen lasse, dann haben wir einen gemeinsamen Moment, der über den bloßen Inhalt des Gesprächs hinausgeht.“ Fanilects gebe es selbstverständlich auch in anderen Subkulturen, aber die Menge an geflügelten Worten, die aus Swifts Songs entstanden seien, hält McCausland für auffällig.
Den Fanilect spricht man auch an einem Winterabend im Saal 11 eines Multiplex-Kinos im Osten Berlins. Ich bin dort, um mir das Eras-Tour-Konzert auf großer Leinwand anzuschauen. Zwar habe ich da längst Tickets für Juli in München und kenne die Show aus jedem denkbaren Winkel von Tiktok – aber eben noch nicht in Dolby Surround. Als Swift aus dem Bühnenboden in den Himmel emporsteigt, weine ich vor Rührung in mein Popcorn.
Ein paar Tage vorher hatte das Time Magazine sie zur „Person of the Year“ ernannt und ein seitenlanges Porträt veröffentlicht. Swift erzählt darin, dass sie zur Tourvorbereitung monatelang täglich auf dem Laufband ihre gesamte Setlist gesungen habe. 44 Songs. Es ist natürlich klar, dass die Milliardärin Taylor Swift – mal abgesehen von der generellen Madness die diese Form der Berühmtheit mit sich bringt – ein samtweiches Leben führt. Trotzdem beeindruckt mich, dass sie Abend für Abend diese Bühnenshow übersteht – auch wenn Taylor Swifts Choreos vom Intensitätslevel im Vergleich zu anderen weiblichen Popstars immer so wirken, als würde man das mit sehr viel Mühe auch noch selbst hinkriegen.
Das Narrativ der harten Pop-Arbeiterin
Seit ihrer vorherigen Welttournee hat Swift vier Alben veröffentlicht. Sie könnte nun auf dieser Tour auch nur eines davon vorsingen. Stattdessen hat sie sich entschieden, ein Konzert zu konzipieren, das US-Musikjournalist Jon Bream kürzlich als die „erfüllendste“ Show bezeichnet hat, die er in seinen 48 Jahren des Kritikenschreibens je besucht habe. Taylor Swift hat keine unglaubliche Stimme. Sie kann auch nicht unglaublich gut tanzen. In „Mirrorball“ singt sie: I've never been a natural / all I do is try, try, try. Das kann man natürlich als Erzählung abtun, die sie authentischer wirken lassen soll. Oder man findet es rührend. Wie ich.
Laut Medienwissenschaftlerin Maryn Wilkinson handelt es sich beim Popstar, dem das Popstarsein nicht leicht fällt, um ein womöglich sorgfältig ersonnenes Narrativ. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit „Taylor Swift: the hardest working, zaniest girl in show business“ erklärt sie, wie Swift der Übergang von Countrymusik in Popmusik gelang – nämlich, indem sie eine weibliche Popstarpersona kreierte, die es so noch nicht gab.
Als junge Countrymusikerin lebte Taylor Swift die Werte des Genres, zeigte beispielsweise in Behind-the-Scenes-Videos, wie sie ihre Texte allein verfasste, berichtete in Interviews offen über intime Ereignisse in ihrem Leben, die dann später zu Songs wurden, spielte ihre Instrumente selbst, stellte Familie und Freunde der Öffentlichkeit vor, lud Fans zu sich nach Hause ein. Immerzu ging es um harte Arbeit, um Nähe und ihr „wahres“ Selbst. Als sie mit Erscheinen ihres fünften Albums bekanntgab, Country hinter sich zu lassen wollen, habe sie laut Wilkinson gleichzeitig sichergestellt, in ihrer Musik und in öffentlichen Auftritten immer auch einen Metakommentar auf diese künstliche neue Welt abzugeben.
Es sei kein Zufall, dass „Shake It Off“ die erste Single dieser neuen Ära wurde: Ein Song, der von Swifts vermeintlichen Trampelhaftigkeit handelt, während alle um sie herum nicht graziler sein könnten. Indem sie also immerzu betonte, dass es ihr einiges abverlange, sich in der unnatürlichen Konstruktion Pop natürlich zu bewegen, sei es ihr gelungen, das Country-Leitmotiv der „harten Arbeit“ in die Popwelt übertragen.
Und so streifte Swift ihr einstiges Countrydasein ab – vermied dabei allerdings noch jahrelang, sich politisch zu äußern. Selbst von der Alt-Right-Bewegung, die die Sängerin immer wieder vereinnahmte und als „arische Göttin“ und verkappten Nazi bezeichnete, distanzierte sie sich lange nicht öffentlich. Erst zu den Midtermwahlen 2018, Trump war da längst an der Macht, rief sie dazu auf, in ihrem einstigen Heimatstaat Tennessee für den demokratischen Kandidaten zu stimmen.
Die republikanische Gegnerin hatte gegen ein Bundesgesetz zum Schutz von Frauen vor Gewalt und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt und verkörpere somit nicht ihre Werte. Aktuell wünscht sich Joe Biden nichts sehnlicher, als dass Taylor Swift ihn im Präsidentschaftswahlkampf unterstützt – als Retterin der demokratischen USA.
Während des Konzertfilms kann ich nicht anders, als mich immer wieder umzudrehen zu einer Gruppe Mädchen, die sich die gesamten knapp drei Stunden an den Händen halten, jede Zeile kennen und sich zwischendurch kreischend in die Arme fallen. An ihren Handgelenken tragen sie Freundschaftsbändchen mit den Titeln ihrer Lieblingssongs; sie auf Konzerten zu tauschen, ist ein Swiftie-Ritual. Die Mädchen wissen genau, wann sie während eines Lieds in den Pausen reinschreien müssen, wie es sich während der Eras Tour etabliert hat.
Passend dazu berichtet Taffy Brodesser-Akner in ihrer Konzertreportage in der New York Times, dass Menschen um sie herum den Abend als ihre persönliche „Taufe“ bezeichnet hätten. Sie selbst resümiert: „Ich habe im Morgengrauen auf dem Tempelberg gebetet. Ich stand neben zitternden Gläubigen an den Gräbern biblischer Vorfahren. Ich habe in ehrfurchtsvoller Stille die inneren Heiligtümer des Vatikans beschritten.“ Die Eras Tour habe sich genauso angefühlt – „außer dass es eine für Mädchen gemachte Erfahrung war“.
Sind denn jetzt alle durchgeknallt? Vielleicht. Aber nicht durchgeknallter als diejenigen, die sonst auf den Rängen dieser Stadien herumspringen und elektrisiert bis in die Haarspitzen ihr NFL- oder Bundesliga-Team unterstützen. Ich bin außerdem überzeugt davon, dass das, was bei den Eras-Tour-Konzerten passiert, emotional komplexer ist – weil es einen auf Gefühlszeitreise schickt. Der Subtext etwa, während Taylor Swift im Ballkleid „Enchanted“, singt: Diese Person, die dachte, der perfekte Kuss würde sie retten, war ich mal – und du auch. Wir sollten diese Teenagerin liebhaben. Sie hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir heute sind.
US-Kolumnistin Michelle Goldberg ist der Meinung, dass der „Barbie“-Film und die Eras-Tour auch deshalb so unglaublich erfolgreich gewesen seien, weil sie das Zur-Frau-werden als Heldinnenreise begriffen. Eine Lehre daraus müsse sein, dass es einen riesigen, unterversorgten Unterhaltungsmarkt gibt, der die Gefühle von Mädchen und Frauen ernstnehme. „Nach Jahren der Covid-Isolation, reaktionären Politik und einer Mental-Health-Krise, die Mädchen und junge Frauen besonders hart getroffen hat, gibt es eine spürbare Sehnsucht nach gemeinsamem Vergnügen und Katharsis.“
Liebevolle Fans, gemeinsame Katharsis. Wie schön! Oder?! Allerdings habe ich aktuell nicht vor, mich ein zweites Mal taufen zu lassen. Bin ich hier vielleicht doch in einen Kult hineingeraten?
Brian Donovan schüttelt den Kopf. Der 52-Jährige ist Soziologe an der Universität von Kansas und forscht zum Wesen der Swifties. „Kein Kult, nein“, sagt er im Videogespräch. „Ich würde die Community eher als unvollkommenen, aber sicheren Hafen bezeichnen.“ Ein Kult sei destruktiv, es würde Kontrolle ausgeübt und sich gegenseitig Schaden zugefügt.
Swifties seien in erster Linie nett zueinander und ließen auch diejenigen in ihren Zirkel, die sich für Taylor Swift erst seit der Eras Tour begeistern können. „Und, die Hauptunterscheidung: Menschen in einem Kult ist nicht klar, dass sie in einem Kult sind.“ Es sei Teil der Swiftie-Kultur, sich darüber lustig zu machen, wie besessen man sei. „Das war bei Beatlemania übrigens ganz genauso.“
Für ein Buch hat Donovan 60 Swifties interviewt – überrepräsentiert sind dabei weiße heterosexuelle Millennial-Frauen. Der Professor hält die Fan-Demographie allerdings für diverser, als sie oftmals dargestellt werde. „Momentan bin ich aber noch auf der Suche nach mehr Swifties of Color und generell mehr Männern“, erzählt er. Bereits gesprochen habe er mit einigen LGBTQ+-Swifties, insbesondere die Subgruppe der „Gaylors“ fasziniere ihn.
„Gaylors“ sind überzeugt davon, dass Swift, die sich in Musikvideos und auf Bühnen immer wieder als Unterstützerin der LGBTQ+-Szene inszenierte, insgeheim lesbisch ist und unter anderem einst mit dem Model Karlie Kloss liiert war. Innerhalb der restlichen Community gelten diese Spekulationen mittlerweile als übergriffig – auch, weil sich Swift selbst vor ein paar Monaten recht deutlich über die Sexualisierung ihrer Frauenfreundschaften beschwerte.
Auffällig sei auch, dass viele ihrem Swiftie-Sein eine generationenübergreifende Bedeutung beimessen würden. Mütter begleiten ihre erwachsenen Töchter zum Konzert, Teenager ihre Großmütter, junge Väter ihre Grundschulkinder.
Der Kampf um die eigenen Songs
Und dann ist da noch Swifts Aktion mit den „Taylor’s Versions“. Musikpolitisch einzigartig und zentraler Plotpunkt in ihrer Geschichte. 2019 verkaufte Scott Borchetta, der Chef ihres ehemaligen Labels Big Machine Records, sein Unternehmen an Investor und Talentmanager Scooter Braun – einen Mann, den die Sängerin einmal als „manipulativen Tyrann“ bezeichnete. Braun gehören damit Swifts erste sechs Alben, er verdient weiterhin an Plattenverkäufen und Streams. Auch Swift, inzwischen bei Universal, soll angeboten worden sein, ihre Aufnahmen zu kaufen, allerdings zu Konditionen, die einer „Knechtschaft“ glichen.
Daraufhin beschloss sie, ihre Musik nach und nach neu aufzunehmen, mit zusätzlichen Tracks, die es damals nicht auf die jeweiligen Platten schafften. Die alten Alben sind nach wie vor abrufbar, die neuen haben ein frischeres Artwork und tragen den Zusatz „Taylor’s Version“. Der öffentlich ausgetragene Streit zwischen Swift, Braun und Borchetta löste eine Riesenkontroverse über Kunst und Eigentum aus, in die sich auch die Politik einmischte.
Für Swift mag all das strapaziös gewesen sein – am Ende ging sie als Siegerin und mit einem großen Marketing-Coup vom Platz. Gleichzeitig lieferte ihr der Streit ein neues Kapitel in der eigenen Erzählung – Swift als hintergangene Businessfrau, die sich ihr Imperium zurückholt – und unendlichen Stoff für Anspielungen in Lyrics, Symbolik in Musikvideos und Easter Eggs, wenn es um die Veröffentlichung weiterer „Taylor’s Versions“ geht. Es könnte nicht der letzte Streit dieser Art gewesen sein. Denn in dieser Woche wurde bekannt, dass sich Swifts Label Universal nicht mit Tiktok auf die Lizenzierung seiner Künstlerinnen und Künstler einigen konnte. Von nun an dürfen keine Swift-Songs mehr auf Tiktok zu hören sein – einer Plattform, die wesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen hat.
Für echte Swifties ist das mit den Easter Eggs derweil zum neuen Lebensinhalt geworden. Deshalb auch – Sie erinnern sich? – die Sache mit der 112. Zu dieser Zahl haben Swifties eine ähnliche Beziehung wie die Illuminaten zur 23. So fand eine Tiktok-Analystin heraus, dass die Sängerin seit Jahren neue Musik in Zyklen von 112 (224 oder 336 Tagen) veröffentlicht oder ankündigt. 112 ist zudem die Summe aller Songs in Scooter Brauns Besitz. Die Zahl ist auch verbunden mit der Karma-Lehre zu Tod und Wiedergeburt – Swifts gleichnamiger Song wiederum strotzt nur so vor Scooter-Braun-Referenzen.
Klingt wie QAnon für harmlose Millennials? Ja, ich weiß. Doch stimmt die Theorie, und da ist sich ein Großteil des Internets einig, verkündet Swift am 16. Februar die Veröffentlichung von „Reputation (Taylor’s Version)“. Auf „Reputation“ befindet sich übrigens „Don’t Blame Me“, der Song, mit dem für mich alles begann. Auf der Eras Tour halten Swifties öfter Plakate mit einer Abwandlung der ersten Zeile: „Don’t blame me, Taylor made me crazy“. Vielleicht bastel ich mir auch so eins.
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