piwik no script img

Coronaregeln in Berlin3G macht noch obdachloser

3G auf dem Bahnsteig: Obdachlose ohne Nachweis fliegen raus – aber „behutsam“, versichert die BVG. Die Sozialsenatorin rechtfertigt das Vorgehen.

Habseligkeiten eines Obdachlosen am Bahnhof Gesundbrunnen Foto: Emmanuele Contini/imago

Berlin taz | Schluss mit schlafen oder aufwärmen auf dem Bahnsteig: Obdachlose, die keinen 3G-Nachweis vorlegen können, droht seit Mittwoch der Rausschmiss. Denn seitdem gilt in Berlin die 3G-Regel im öffentlichen Nahverkehr nicht nur in Fahrzeugen, sondern auch auf Bahnsteigen. Insbesondere bei Temperaturen um den Gefrierpunkt sind U-Bahnhöfe aber Rückzugsorte für Obdachlose, die viele tagsüber bis zur Schließung zum Aufwärmen nutzen.

Dennoch gibt es in der neuen Regelung keinen Ermessensspielraum für Obdachlose ohne Impf- oder Genesungsnachweis oder tagesaktuellen Test: „Auf Bahnhöfen und in Zügen sind keine Sonderregelungen möglich“, heißt es von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales – aus Gründen des Infektionsschutzes. Die Regelung von Rot-Rot-Grün sorgt derzeit für viel Empörung: Es gibt Kritik auf sozialen Medien – von großen linken Accounts, aber auch von Impfverweigerern oder rechten Portalen. Selbst Kai Wegner von der nicht zuerst für Sozialpolitik bekannten Berliner CDU nannte 3G am Bahnsteig „ein Zeichen sozialer Kälte“.

Auf taz-Anfrage erklärt die eigentlich für progressive Obdachlosenpolitik bekannte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) dazu: „Uns ist bewusst, dass die Situation der Obdachlosen in der Pandemie besonders schwierig ist.“ Man müsse aber den Infektionsschutz berücksichtigen. Deswegen könnten sich Obdachlose in allen Einrichtungen der Kältehilfe testen lassen. Ebenso gebe es in Berlin einen Anspruch auf Unterbringung, man könne sich von Kältebussen in diese niedrigschwelligen Einrichtungen bringen lassen.

Für die Impfung von Obdachlosen habe man zudem eine Riesenkampagne gefahren, so Breitenbach – auch jetzt gebe es weiter Impfangebote für Obdachlose vor Einrichtungen und in Arztpraxen. „Wir haben in Berlin im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern viele Maßnahmen mit Blick auf Obdachlose geschaffen.“ So hätten sich Obdachlose auch immer in Gruppen im Park aufhalten dürfen.

BVG will Milde walten lassen

Eventuell wolle man nun auch die Möglichkeit schaffen, sich an Bahnhöfen testen zu lassen, so Breitenbach. Dafür wolle man aber zunächst schauen, wie es läuft. Bisher gibt es laut Breitenbach noch keine Berichte von Obdachlosen, die von Bahnsteigen geflogen seien. Die Frage sei jetzt, wie BVG und S-Bahn die Regelung umsetzten. Breitenbach ist sicher: „Viele Kontrolleure gehen damit verantwortungsvoll um, sie riefen bisher Wärme- und Kältebusse an – ich gehe davon aus, dass es weiter so läuft.“

Tatsächlich versprechen BVG und S-Bahn auf taz-Nachfrage, Milde walten zu lassen: „Selbstverständlich sind wir im Umgang mit besonders schutzbedürftigen Mitmenschen gerade in der jetzigen Situation äußerst behutsam.“ Man schicke niemanden allein in die Kälte, verweise auf Anlaufstellen und rufe bei Bedarf Hilfe, heißt es von der BVG. 3G-Kontrollen fänden derzeit täglich schwerpunktartig in aller Regel gemeinsam mit der Polizei statt. Von S-Bahn ist Ähnliches zu hören.

Zudem verweist die BVG darauf, dass 3G nur auf Bahnsteigen und in Fahrzeugen gelte, „nicht jedoch im restlichen Bahnhofsbereich.“ Demnach dürfen sich Obdachlose auch weiter ohne 3G-Nachweis in Vorhallen und Durchgängen aufhalten. Wie Sicherheitspersonal diese Vorgaben in der Praxis umsetzt, ist aber natürlich eine andere Frage.

Die 3G-Regel in Bahnhöfen erfordert pragmatische Lösungen, damit niemand in die Kälte geschickt wird.

Antje Kapek, Grüne

Jens Aldag von der Koordinierungsstelle der Berliner Kältehilfe macht die Regelung zu Bahnsteigen Sorgen, wenngleich er 3G grundsätzlich für richtig hält: „Die 3G-Regelung finden wir wichtig und wir stehen hinter den Infektionsschutzmaßnahmen.“ Auch könne er nachvollziehen, dass man keine Ausnahmen machen könne – zumal auch Obdachlose in der Pflicht seien, sich impfen zu lassen.

Zugleich werde aber ein Großteil der auf der Straße lebenden Menschen von bestehenden Impf- und Testangeboten für Obdachlose nicht erreicht, wie Aldag sagt: „Deswegen macht uns die Maßnahme schon enorme Sorgen, weil Obdachlose einen besonderen Schutz brauchen.“ Man müsste Test- und Impfmöglichkeiten für sie flächendeckender anbieten, sagt er. „Wir könnten uns auch vorstellten, dass im Rahmen von Kontrollen auch Tests für Obdachlose durchgeführt werden können“, so Aldag.

Für Aldag steht aber außer Frage, dass der Senat unter der noch amtierenden linken Sozialsenatorin Elke Breitenbach beim Thema „sehr hinterher“ sei. Es bleibe jedoch das Problem, dass man viele Menschen einfach nicht erreiche – aus vielfältigen Gründen. Laut Aldag kommen derzeit rund 1.000 Obdachlose in Berlins Not­unterkünften unter, nach seiner Schätzungen schlagen sich demgegenüber weitere 3.000 Obdachlose alleine durch. Insbesondere sie bräuchten Bahnhöfe als Schutzräume, so Aldag: „Leute, die draußen schlafen, sind angewiesen auf Ruhepole, wo sie auftanken können – und wenn es nur eine U-Bahn-Bank ist.“

Abgesehen von der 3G-Problematik sei die Lage derzeit aber auch trotz Temperaturen unter dem Gefrierpunkt noch „halbwegs sicher“, wie Aldag sagt. Es gebe noch Notübernachtungsplätze, aber langfristig müsse man aufstocken – insbesondere bei Angeboten, die rund um die Uhr verfügbar seien.

Auf taz-Anfrage sagte Antje Kapek, Fraktionschefin der Grünen, das man noch einmal prüfen wolle, inwiefern eine Anpassung der Verordnung nötig ist: „Die 3G-Regel in Bahnhöfen erfordert pragmatische Lösungen, damit niemand in die Kälte geschickt wird.“

Aldag ruft in jedem Fall Ber­li­ne­r*in­nen auf, sich die Kältehilfe-App herunter zu laden, um notfalls Obdachlose unterstützen zu können. Darin finde man Adressen und Nummern von Krisenanlaufstellen, Hilfs- und Übernachtungsangeboten in der Nähe sowie die Nummern vom Wärme- und Kältebus (030-6003001010 und 030-690333690).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • > So hätten sich Obdachlose auch immer in Gruppen im Park aufhalten dürfen.

    Das ist schlicht gelogen. Während der ersten Ausgangssperre haben Polizist:innen in Berlin regelmäßig mit infantilem Grinsen und leuchtenden Augen offenbar Obdachlose gefragt, welchen triftigen Grund sie denn hätten, sich im Freien aufzuhalten und sie sonstwie drangsaliert. In Parks, in U-Bahnhöfen, überall. Ob Gruppen oder nicht.

    Unsere Herren (und Damen) Investigativjournalist:innenen waren währenddessen damit beschäftigt, herauszufinden, ob irgendwo Leute zu dicht Schlange stehen oder zuviel Klopapier kaufen.

    Man muß diesen nationalistischen Rausch nicht im Nachhinein schönreden.

  • Es gibt wahrscheinlich kein Problem im Alltag eines Obdachlosen, dass sich einfacher lösen ließe. Man muss sich nur impfen lassen.

    Das ist jetzt schon mindestens der dritte Artikel, den ich in den letzten Tagen in der taz gelesen haben, in dem das Narrativ der Ungeimpften als Opfer verbreitet wird. Was soll der Quatsch? Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich nicht impfen zu lassen.

    • @Ruediger:

      So einfach ist es leider nicht. Es gibt viele obdachlose Menschen, die jahrelang wirr durch die Gegend irren (z.B. mit chronischer Schizophrenie) und die das mit der Impfung und Corona und den Tests nicht verstehen oder selbst wenn sie geimpft sind dann den Impfnachweis verloren haben, kein Smartphone besitzen für den digitalen Impfnachweis und das in ihrem wirren Zustand auch nicht den Kontrollen erklären können oder sich der eigenen erfolgten Impfung in ihrem Zustand nicht bewusst sind. Das ist das Tragische... :-(

    • @Ruediger:

      Ja klar. Und wieviel "vernünftige Gründe" gibt es verarmt, obdachlos, suchtkrank zu sein? In einem der reichsten Länder der Welt?

      Was für eine Gesellschaft, die mitten im Winter von den sozial Schwächsten als Erstes mal erwartet, sich impfen zu lassen, damit sie das Recht haben sich auf Bahnsteigen aufhalten zu dürfen, anstatt die Zustände anzuprangern, die solche unwürdigen Lebensumstände erzeugen.

      Obdachlose in einer Pandemie als Opfer? Die können sich doch informieren. Im Netz, im TV, in der taz. Zu Hause von der gemütlichen Couch aus. Oder ein das Gespräch beim Hausarzt suchen. "Nichts ließe sich einfacher lösen".

      • @Deep South:

        Vielen Dank, ich schließe mich an.

        Die menschliche Kälte ist genauso schlimm wie die wetterbedingte.

      • @Deep South:

        Die Gesellschaft erwartet von allen, sich impfen zu lassen, nicht nur von Obdachlosen. Aber es gibt auch für Obdachlose keine Gründe, sich nicht impfen zu lassen.



        Dass wir politisch einen anderen Umgang mit Obdachlosigkeit finden müssen, sehe ich auch, aber das eine schließt das andere nicht aus.

        • @Ruediger:

          > Aber es gibt auch für Obdachlose keine Gründe, sich nicht impfen zu lassen.

          Mir ging's 'nen Abend schlecht nach meiner Impfung, mit Schüttelfrost und Kopfschmerzen. Nichts Schlimmes, aber auf der Straße hätt ich die Nacht nicht verbringen wollen. Seit wann es auch für Sans-Papiers etc. möglich ist, sich impfen zu lassen, weiß ich gar nicht (geht nach dem, was ich hör, in Berlin aber mittlerweile), war anfangs aber nicht so einfach.

          Bleibt das Problem mit dem Impfpaß. Es ist so schon schwer genug, als Obdachloser Verwahrstellen für seine Habseligkeiten zu finden, aber den Impfpaß muß man ja auch noch dauernd mitführen (wenn er kontrolliert werden können soll). Ich weiß von mindestens einem Fall, wo eine Kopie nicht akzeptiert wurde. Das war auch noch ohne Ausweispapiere, mir ist schon klar, daß so eine Kopie nicht wirklich was beweist, und die von jedem stammen könnte, aber was wäre eine sinnvolle Alternative? Sich jede Woche neu impfen lassen, weil der Impfpaß schon wieder abhanden gekommen ist?